Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
eingeladen worden.
Nun bemühte er sich, die Aufmerksamkeit des Kellners zu erregen, während er sich darüber beklagte, wie langweilig archäologische Routineaufgaben waren und wie sehr es ihn ärgerte, dass Teile eines römischen Fußbodenmosaiks verschwunden waren, vermutlich in den Taschen irgendeines Hausmeisters. Madeleine richtete unterdessen ihre Aufmerksamkeit auf die dreiundvierzigjährige Frau in dem großen Spiegel hinter Gordon. Dreiundvierzig! Wie die meisten Frauen wusste sie bestens, wie sie aussah, aber das hier war eine andere Sache. Sie beobachtete sich heimlich in einer realen Szene, und ihr fiel auf, wie fremd sie in diesem Land tatsächlich wirkte. Es zeigte sich an der Art, wie sie sprach, lachte, gestikulierte und, recht irritierend, an ihrem ständigen trägen Schulterzucken (machte sie das auch gegenüber Patienten?).
Sie war eine halbe Britin, aber ihre spanische Hälfte war eindeutig vorherrschend. Ihre Haut war viel goldener als die der blassen Gäste um sie herum. In der gnadenlosen Sonne von Key West aufgewachsen, war sie mit einer natürlichen, das ganze Jahr über anhaltenden Bräune gesegnet. Ihre Mutter war Kubanerin, und ihre Ur-Ur-Urgroßmutter gehörte zu den Yoruba, die von den Spaniern aus dem dunkelsten Afrika als Sklaven verschleppt worden waren, um auf den kubanischen Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Doch Madeleine war auch das Kind ihres Vaters. Sie war groß, schlank und gerade gewachsen. Die Zierlichkeit ihrer Mutter, ihre erotischen lateinamerikanischen Kurven und ihr feuriges Temperament hatte sie nicht geerbt.
Sie schenkte ihrem Spiegelbild einen letzten Blick und sagte sich, dass man ihr die Hochstaplerin ansah. Ihr unbeschwertes Lächeln; die Art, wie sie sich bewegte und wie sie ihren Kopf herumwarf, wenn eine schwarze Locke sie störte; die scheinbare Übereinstimmung mit sich selbst, während in Wirklichkeit Edmund Furie recht gehabt hatte: Sie fühlte sich deplatziert.
Sie wandte sich genau in dem Augenblick Gordon wieder zu, als in seiner Sakkotasche das Handy schrillte. Er hätte es einfach ignorieren können, aber stattdessen meldete er sich, drehte sich weg und telefonierte mit gedämpfter Stimme. Madeleine versuchte, die Unterbrechung zu übergehen, aber als er fertig mit seinem Gespräch war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, eine Bemerkung über seine Unhöflichkeit und ständige telefonische Erreichbarkeit zu machen.
»Jetzt täte ein Drink gut«, fügte sie leise hinzu.
»Ja, aber nicht hier.«
Gordon stand auf und wandte sich zur Tür, während sie erst noch Tasche, Jacke und Schirm zusammenraffen musste. Ein hochmütiger Kellner schaute ihr dabei zu.
»Tut mir leid«, sagte Madeleine zu ihm. »Wir verpassen sonst unsere Straßenbahn.«
»Madam«, entgegnete der Mann mit einem Stirnrunzeln, »in Bath gibt es keine Straßenbahnen.«
»Und in diesem Lokal, Sir, gibt es keinen Service«, konterte sie und schob sich an ihm vorbei.
Unter der Poulteney Bridge strömte murmelnd das Wasser des Avon dahin. Gordon, der einige Schritte voraus lief, steuerte die Restaurants in der Argyle Street an. Die Hände hatte er in die Taschen geschoben, seinen Regenumhang achtlos um die Schultern geworfen. Sie kannte seine Angewohnheit, sie hinter sich herlaufen zu lassen, wenn er verärgert war. Je mehr sie ihre Schritte beschleunigte, desto schneller ging auch er. Sie hatte noch nicht den Mut gehabt, ihn deswegen zur Rede zu stellen.
Sie holte mit großen Schritten aus, bis sie seine Hand greifen konnte. »He, Gordon. Lass uns nicht den Abend verderben. Du bist grantig, weil du Hunger hast, das ist alles. Warum gehen wir nicht einfach zu mir zurück? Die beste Bar der Stadt, und etwas zu essen habe ich auch im Haus. Ich war bei Safeway und hab Proviant fürs Wochenende eingekauft.«
Er verlangsamte seinen Gang etwas und drückte versöhnlich ihre Hand. »Bei Safeway gibt’s nur Schrott. Ich kaufe bei Mark’s.«
»Na gut, dann gehen wir zu dir, Gordon.« Sie zwang ihn stehen zu bleiben und sie anzusehen.
Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Nein, streichen wir Mark’s.« Er zuckte entwaffnend die Schultern. »Ich würde sagen, wir gehen doch zu dir.«
Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sie vertraute ihrem scharfen Instinkt, der für die leisesten Botschaften empfänglich war. »Ach zum Teufel mit dem Essen. Gehen wir zur Abwechslung mal zu dir.«
Wieder warf er einen Blick auf seine Uhr. »Mein Bett muss frisch bezogen
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