Erdbeermond: Roman (German Edition)
EINS
Mum riss die Wohnzimmertür auf und verkündete: »Morgen, Anna, Zeit für deine Tabletten.«
Sie versuchte, mit forschen Schritten durchs Zimmer zu kommen wie die Krankenschwestern, die sie in Krankenhausserien gesehen hatte, aber das Zimmer war so voll gestellt mit Möbeln, dass sie sich dazwischen durchquetschen musste, um zu mir zu gelangen.
Als ich acht Wochen zuvor nach Irland zurückgekommen war, konnte ich wegen meines kaputten Kniegelenks keine Treppen steigen, und deshalb hatten meine Eltern mir unten im Guten Wohnzimmer ein Bett aufgebaut.
Man darf sich nicht täuschen, das ist eine große Ehre: Unter normalen Umständen durften wir das Zimmer nur zu Weihnachten betreten. Die restliche Zeit spielten sich alle familiären Aktivitäten – fernsehen, Schokolade essen, zanken – in der engen umgebauten Garage ab, die großspurig als Fernsehzimmer bezeichnet wurde. Doch als mein Bett im GWZ installiert wurde, war nirgendwo Platz für die anderen Sachen – Sofas mit Quasten, Sessel mit Quasten. Jetzt sah das Zimmer wie ein Möbellager aus, wo Millionen von Sofas auf engstem Raum zusammengepfercht stehen, sodass man praktisch auf ihnen entlangklettern musste wie auf Felsblöcken am Strand.
»Also gut, mein Fräulein.« Mum guckte auf ein Blatt Papier, auf dem meine medizinische Versorgung genau verzeichnet war – Antibiotika, Entzündungshemmer, Antidepressiva, Schlaftabletten, hochkarätige Vitamintabletten, Schmerzmittel, die ein sehr angenehmes Schwebegefühl hervorriefen, und etwas aus der Valiumfamilie, das sie an einem geheimen Ort versteckt hatte.
Die verschiedenen Packungen und Gläser standen auf einem Tischchen mit reichen Verzierungen – mehrere Porzellanhunde von beispielloser Hässlichkeit waren verbannt worden, um Platz für die Medizin zu machen, und saßen jetzt auf dem Boden, von wo sie mich vorwurfsvoll anstarrten –, und Mum fing an, mit den Dingen zu hantieren, Kapseln aus der Folie zu drücken und Tabletten aus Gläsern zu schütteln.
Freundlicherweise war mein Bett in den Fenstererker gestellt worden, damit ich auf das vorüberziehende Leben draußen blicken konnte. Nur dass das nicht ging, denn vor dem Fenster hing eine Gardine, die so unverrückbar war wie eine Metallwand. Nicht physisch, muss man verstehen, sondern gesellschaftlich unverrückbar: Wenn man in den Vororten Dublins die Stores anhob, um einen Blick auf das »vorüberziehende Leben« zu werfen, war das ein gesellschaftlicher Fauxpas, vergleichbar damit, dass man die Hausfassade schiaparellirosa anmalte. Außerdem gab es kein vorüberziehendes Leben. Außer … durch die Netztrennwand bemerkte ich an den meisten Tagen eine ältere Dame, die immer an unserem Gartentor stehen blieb und ihren Hund an den Pfosten pinkeln ließ. Manchmal sah es so aus, als ob der Hund, ein süßer schwarz-weißer Terrier, gar nicht pinkeln wollte, aber anscheinend bestand die Frau darauf.
»Gut, mein Fräulein.« Mum hatte mich, bevor das alles passierte, nie »Fräulein« genannt. »Jetzt nimmst du die.« Sie schüttete mir eine Hand voll Pillen in den Mund und gab mir ein Glas Wasser. Eigentlich war sie sehr freundlich, obwohl ich vermutete, dass sie nur eine Rolle spielte.
»Herr im Himmel«, sagte eine Stimme. Das war meine Schwester Helen, die gerade von ihrer Nachtarbeit nach Hause kam. Sie stand in der Tür zum Wohnzimmer, ließ den Blick über all die Quasten streifen und sagte: »Wie hältst du das nur aus?«
Helen ist die jüngste von uns fünf Schwestern und wohnt immer noch im Haus unserer Eltern, obwohl sie schon neunundzwanzig ist. Doch warum sollte sie ausziehen, fragt sie oft, wenn sie mietfreie Unterkunft hat, Kabelfernsehen und einen eingebauten Chauffeur (Dad). Das Essen war natürlich, das gab sie zu, ein Problem, aber mit so etwas kann man umgehen.
»Hi, Schatz, da bist du ja«, sagte Mum. »Wie war’s bei der Arbeit?«
Nach verschiedenen Berufswechseln ist Helen – das erfinde ich nicht, ich wünschte, es wäre erfunden – Privatdetektivin. Das klingt natürlich viel gefährlicher und aufregender, als es ist, denn ihre Arbeit beschränkt sich meistens auf den industriellen und den »familiären« Bereich – wo sie Beweise sammeln muss, wenn ein Mann eine Affäre hat. Ich würde das ja entsetzlich deprimierend finden, aber sie sagt, ihr mache das nichts aus, sie habe schon immer gewusst, dass Männer echte Arschgeigen seien.
Sie verbringt eine Menge Zeit damit, mit ihrem Teleobjektiv in feuchtem
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