Erdbeermond: Roman (German Edition)
ihre Verwirrung. Man kann sehen , was sie denken: Sie ähneln sich so sehr, aber diese Helen ist verführerisch wie eine Droge, und diese Anna ist einfach so na ja … Das hilft den Männern aber gar nicht. Helen prahlt damit, dass sie nie verliebt gewesen ist, und das glaube ich ihr. Sie hat keine Zeit für Gefühle und nur Spott für alle und jeden.
Sogar Luke, Rachels Freund – jetzt Verlobter. Luke ist ein dunkler Typ und so sexy und männlich, dass ich Angst habe, mit ihm allein zu sein. Ich meine, er ist ein lieber Kerl, richtig lieb, aber, na ja … durch und durch Mann. Ich finde ihn faszinierend und abstoßend zugleich, falls das einen Sinn ergibt, und sogar Mum – ich würde sagen, sogar Dad – findet ihn sexuell attraktiv. Aber nicht Helen.
Plötzlich packte Mum mich am Arm – zum Glück am nicht gebrochenen – und zischte mit vor Aufregung bebender Stimme: »Guck! Da ist Jolly Girl Angela Kilfeather. Mit ihrer Jolly-Girl-Freundin! Sie sind zu Besuch!« Angela Kilfeather war die exotischste Person, die je in unserer Straße lebte. Na, eigentlich stimmt das nicht ganz, meine Familie ist dramatischer, angesichts kaputter Ehen und Selbstmordversuchen und Drogenabhängigkeit und Helen, aber Mum benutzt Angela Kilfeather als obersten Maßstab: So schlimm ihre Töchter auch sein mögen, wenigstens sind sie keine Lesben, die Zungenküsse mit ihren Freundinnen austauschen.
(Helen hat mal mit einem Inder gearbeitet, der das Wort »gay« falsch als »jolly« wiedergab. Das hat sich derart durchgesetzt, dass fast alle, die ich kenne – einschließlich all meiner schwulen Freunde –, jetzt Schwule als »Jolly Boys« bezeichnen. Und immer mit einem indischen Akzent. Da war es nur logisch, dass Lesben zu »Jolly Girls« gemacht wurden, auch das mit einem indischen Akzent gesprochen.)
Mum linste mit einem Auge durch den Gardinenspalt. »Ich kann nichts sehen, gib mir mal dein Fernglas«, befahl sie Helen, die es aus ihrem Rucksack holte – es aber nicht aus der Hand gab. Es kam zu einem kurzen, intensiven Handgemenge. »Gleich ist sie WEG«, sagte Mum inständig. »Lass mich mal sehen.«
»Versprich, mir ein Valium zu geben, und die Gabe der Fernsicht ist dein.«
Mum steckte in der Klemme, aber sie traf die richtige Entscheidung.
»Das geht nicht, das weißt du«, entgegnete sie streng. »Ich bin deine Mutter, es wäre unverantwortlich.«
»Bitte, dann nicht«, sagte Helen, blickte durch das Fernglas und murmelte: »Großer Gott, sieh dir das an!« Dann: »Meine Güte! Ding-dong! Was hast du vor? Eine Jolly-Girl-Mandeloperation?«
Da sprang Mum vom Sofa und versuchte, Helen das Fernglas zu entreißen, und sie balgten sich wie Kinder und hörten erst auf, als sie an meine Hand stießen, die, an der mir die Fingernägel abgegangen waren, und erst mein Schmerzensschrei brachte sie wieder zur Vernunft.
ZWEI
Nachdem Mum mich gewaschen hatte, nahm sie den Verband von meinem Gesicht ab wie jeden Tag und hüllte mich in eine Decke. Ich setzte mich in den streichholzschachtelgroßen Garten und sah dem Gras beim Wachsen zu – die Schmerzmittel machten mich träge und heiter – und ließ Luft an meine Wunden.
Der Arzt hatte gesagt, direktes Sonnenlicht sei strengstens verboten, und obwohl die Chance, dass in Irland im April die Sonne scheinen würde, sehr gering war, hatte ich den dummen breitkrempigen Hut auf, den Mum bei der Hochzeit meiner Schwester Claire getragen hatte. Zum Glück war keiner da, der mich sehen konnte. (Notiz an mich – Hier ergibt sich die philosophische Frage nach dem Muster: Wenn im Wald ein Baum umstürzt und es ist niemand da, der es hören könnte, gibt es dann das Geräusch? Und wenn man einen dummen Hut da trägt, wo niemand ihn sehen kann, ist er dann immer noch ein dummer Hut?)
Der Himmel war blau, die Luft ziemlich warm, und alles war sehr angenehm. Ich hörte Helen ab und zu in einem Schlafzimmer im Obergeschoss husten und sah den hübschen Blumen zu, die sich in der leichten Brise nach links neigten, dann nach rechts, dann wieder nach links … Es gab späte Osterglocken und Tulpen und andere rosa Blumen, deren Namen ich nicht wusste. Komisch, dachte ich schwebend, früher hatten wir einen schrecklichen Garten, den schlimmsten in der ganzen Straße, vielleicht sogar den schlimmsten in Blackrock. Jahrelang war er der Müllplatz für rostige Fahrräder (unsere) und leere Johnnie-Walker-Flaschen (auch unsere), und das lag daran, dass wir, im Gegensatz zu anderen anständigeren,
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