Erfolg
wird man auch da einmal hingelangen. Aber er? Er hatte seine Zelle, zwei Meter breit, vier Meter lang, und der Planet Mars und Straßen, Frauen, Meer, Wiederaufnahme waren jenseits dieser Zelle. Er sprach mit Johanna klar und ruhig. Niemals fehlte ihm das richtige Wort. Auf ihre gespannten, ängstlichen Fragen gab er sofort deutliche, anschaulicheAntwort. Er sprach von seiner Krankheit, von jenem Vernichtungsgefühl, von dem würgenden, pressenden Schmerz, und daß der Arzt nichts finden könne. Vielleicht auch war es wirklich Einbildung. Er hatte ja auch getobt, hatte den Direktor ins Gesicht geschlagen, was schwerlich ein Vernünftiger tut, da er weiß, daß die kurze Freude nicht im Verhältnis steht zu der Dauer und der Schwere des Entgelts. Aber Johanna glaubte nicht, daß jenes Vernichtungsgefühl nur Einbildung sei; sie sah den Graubraunberockten, diesmal sah sie ihn licht und sogleich, so daß sie das Bild nicht erst später aus der Erinnerung herausgraben mußte, und sie wußte genau, daß nicht Martin Krüger, daß der Arzt sich täuschte. Sie hatte nicht einmal das Gefühl, daß hier Bosheit am Werk war, sie glaubte, es sei ein schwerer, verhängnisvoller Irrtum, und ihre Gedanken jagten, wie sie diesen Irrtum gutmachen könnte. War das denkbar, daß sie glücklich gewesen war, während Martin einen solchen Anfall hatte? Daß sie neben Tüverlin lag, während Martin rang mit der Vernichtung?
Sie muß den Kaninchenmäuligen stellen, muß zu dem Arzt gehen. Ein Spezialarzt muß zugezogen werden. Sie muß dem Dr. Geyer schreiben, muß sogleich, sogleich muß sie noch einmal mit dem Minister Messerschmidt reden. Hier wird ein Mensch zerrieben, der keine Obhut hat außer der ihren. Es liegt am Tag, sie sieht es deutlich, wie er weniger wurde von Mal zu Mal, einschmolz, einging. Dies alles dachte sie schnell, gejagt, tausend andere Möglichkeiten erwog sie, Besuche bei Ärzten, Briefe an die fünf heimlichen Regenten. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß jemand nein sagen sollte, wenn es sich um ein so Einfaches handelt wie Krankheit, so fern aller Politik.
Martin Krüger indes erzählte weiter; er erzählte minutiös genau von seinen Anfällen, so deutlich, wie er früher Bilder geschildert hatte. Johanna schaute auf seinen Mund, einen sehr üppigen Mund einst, sie sah seine Zunge, die weißlich war, seine Zähne, die gelb aus dem blassen Zahnfleisch hervorkamen,seine dichten Brauen, die jetzt verfärbt hingen über matten Augen. Er sagte: »Weißt du, das ist so«, und es waren insgesamt vielleicht zwei Minuten, die er über seine Anfälle sprach. Johanna erschien es eine Ewigkeit.
Sie bekam nicht den Arzt zu sprechen, nur den Oberregierungsrat. Der blieb gelassen vor ihren Beschimpfungen, bat höflich, sich zu mäßigen, blieb gelassen vor dem Hinweis auf den Minister Messerschmidt.
Vor Tüverlin brach Johanna in wüsten Zorn aus, beschimpfte auch ihn, und in gemeinen Worten, daß er, ein Mann, dieser langsamen Ermordung eines Unschuldigen ruhig zusehe. Tüverlin hörte sie sehr aufmerksam an, ließ sich einiges, was sie berichtete, wiederholen, nickte. Dann notierte er. Ganz wie der Amerikaner. Diese Gewohnheit hatte er von ihm angenommen.
Johanna haßte ihn.
19
Der unsichtbare Käfig
Seit dieser Unterredung, in der Johanna Tüverlin von der Krankheit Martin Krügers berichtete, war die beglückende Sicherheit fort, auf der die Monate in der Villa Seewinkel wie für die Ewigkeit gestanden waren. Tüverlin hatte sich Notizen gemacht wie ein Börsenmakler, wie jener Amerikaner, von dem er soviel sprach und der ihr zuwider war. Hatte Jacques nicht sogar gelächelt? Ja, er hatte gelächelt. Bei einiger Überlegung hätte sie sich sagen müssen, daß es kaum die Pein Martin Krügers sein konnte, über die eben der Mann sollte gelächelt haben, der jenen kalt und scharf brennenden Essay zum Fall Krüger geschrieben hatte. Allein Johanna überlegte nicht. Sie sah nur das Bild dieses nackt lächelnden Mundes.
Sie sprach kein Wort mehr über Martin zu Tüverlin. Begann auf eigene Faust eine emsige Agitation, betriebsam, fahrig, ziellos. Sandte Briefe in die Welt hinaus. Schrieb mehrmalsheftig nach Berlin an den Anwalt Geyer, schickte ihm ungeduldige Telegramme.
Sie hatte eine zweite Unterredung mit Herrn von Messerschmidt. Wieder, wie sie den Alten sah, kam Ruhe über sie, ein Gefühl der Sicherheit. Herr von Messerschmidt, in seiner langsamen Art, sagte ihr zu, er werde sogleich nachprüfen lassen, was es
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