Erfolg
irgendwer in der Welt irgendeine frühe Äußerung von ihm las über irgendeine Farbnuance und daß gleichzeitig er hier lag und Ratten über ihn wegliefen.
Daß er hier lag, war nicht schlimm. Daß ein Richter ihn verurteilt hatte, war nicht schlimm. Daß ein Mann ihn hier hineinstieß in die zehn ägyptischen Plagen, in Hunger, Geziefer und Finsternis, war nicht schlimm. Aber schlimm war, daß draußen andere herumgingen und davon wußten und es duldeten. Daß Menschen nachdachten über Millionen Dinge und nicht hier über ihn, daß Zeitungen schrieben über Reden von Politikern, Farbgebung von Bildern, Schnelligkeit von Schiffen, Flugbahnen von Tennisbällen und nicht hier über ihn. Er lag in großer Schwäche, sog den scharfen Gestank des Käfigs ein und haßte Johanna.
Er wußte nicht, wie lange es her war, daß man ihm die Matratze hereingeworfen hatte und das Brot. Auf einmal fürchtete er, und er starb fast vor Schreck, man habe ihn vergessen. Er war einmal in einer unterirdischen Höhle gewesen, imUntersberg, sie war weit, verzweigt, mit sehr steilen Wänden, zunehmend kalt, totenstill. Er war mit einem Bekannten hineingegangen, ohne Führer, das war leichtsinnig. Wenn die Batterie der Taschenlampe versagte, war es aus. Sie versagte. Er hatte plötzlich keinen Boden unter den Füßen und Angst wie nie zuvor. Es dauerte wohl nicht sehr lange, bis sein Bekannter wieder zu ihm stieß, kaum eine Minute: doch ihm schien es ewig. Es war das Schrecklichste, was er erlebt hatte; manchmal, selten, überfiel ihn die Erinnerung. Dann begann er zu zittern. Die gleiche, würgende Furcht fiel ihn jetzt an. Man hat ihn vergessen, er wird hier verrecken, unter den Ratten, im Kot seiner Vorinsassen, in seinem kurzen Hemd.
Es waren aber sechsunddreißig Stunden, die man ihn in diesem Käfig ließ.
Als dann Dr. Gsell ihn untersuchte, fand er ihn erfreulich ruhig. Er beklagte sich über nichts, gab höfliche, vernünftige Antworten, ging ein auf den jovialen Ton des Arztes. »Mehr weiße Haare haben wir bekommen«, scherzte der Doktor, »aber das steht uns ganz gut. Und die kleine Schwäche kriegen wir schon.« Krüger schaute ihn an aus stumpfen Augen. »Ja, Herr Doktor«, sagte er still, »das kriegen wir schon. Ich komme hier einmal heraus: aber Sie müssen immer hierbleiben.«
Diese sanfte und sicher nicht bös gemeinte Konstatierung traf den Dr. Gsell. Denn er saß nicht gern in Odelsberg. Er hatte ursprünglich die Universitätskarriere einschlagen wollen. Seit seiner Studentenzeit hatte er eingehende, passionierte Untersuchungen angestellt über die Rassenunterschiede des Blutes, und seine beiden Veröffentlichungen wurden unter den Büchern dieser Wissenschaft, unter den Schriften der Dungern, von Scheidt, Hirschfeld, an erster Stelle genannt. Einmal hatte er geglaubt, jetzt sei es an dem, jetzt habe er den Schlüssel, gewisse Blutmerkmale als auslesewertig nachzuweisen. Allein es war wieder nichts: seine Erkenntnis blieb Irrtum. Ihm wie allen Zeitgenossen blieb es versagt, aus dem Blut des Individuums seine Rassenzugehörigkeit zu diagnostizieren. Wieimmer, er war näher am Ziel als die andern; wenn einem, dann ihm mußte es glücken. Später aber hatte eine Reihe widriger Umstände, Vermögensverfall seiner Mutter, Rückgang seiner Verlobung mit einer einflußreichen Professorentochter ihm das Projekt der Dozentur verhunzt, ihn gezwungen, seine Untersuchungen aufzugeben. Jetzt, ein alternder Junggeselle, saß er in Odelsberg, hatte eine Privatpraxis, die ihn nicht anregte, sein ärztliches Amt in der Strafanstalt, das ihm Erfüllung unwillkommener Pflicht war. Ein Arbeitstag von vierzehn Stunden, eine läppische Tätigkeit, die jeder andere auch hätte verrichten können, hinderte ihn an der Sendung, für die allein er auserwählt war.
Dr. Gsell ließ seine Bitterkeit nicht an seinen Patienten aus. Er liebte nicht die medizinische Praxis, aber er war kein schlechter Arzt. Er hatte raschen Blick, eine geschickte Hand. Versah sein Amt human. Allein der Dienst im Zuchthaus stumpfte ab. Dr. Gsell gewöhnte sich, von dem, was ihm die Gefangenen erzählten, wenig zu glauben. Es gab so viele Störrische, Verbissene. Er blieb auch vor ihnen jovial, sprach ihnen zu. Wurde aber, wenn sie beharrten, unangenehm.
Er hatte, als Krüger eingeliefert wurde, an ihm wie an allen Zuchthausinsassen zunächst eine Blutuntersuchung vorgenommen. Dem Aussehen nach keltischer Typ mit leicht semitischem Einschlag, hätte der Mann von
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