Erfolg
gerührt, viele weinten. Auch Martin Krüger war gerührt. Später erschrak er vor Scham, daß er gerührt war. Am Abend gab es ein Stück Käse mehr. Es war Schweizer Käse, hart, kräftig. Martin Krüger schmeckte ihn aus, Krume für Krume.
Es ging ihm nicht gut. Er hatte seine starken Tage gehabt, als er von dem Revolutionär Goya schrieb. Seine eigene Revolution war ein läppischer Kampf mit einem subalternen Kerkermeister, zermürbend, aussichtslos.
Auf die Dauer hielt seine Klugheit nicht vor. Einmal gelang es dem Kaninchenmäuligen, einen Vorwand für eine Bestrafung zu erlisten. Er diktierte ihm die Strafe geschäftsmäßig, knapp, fast militärisch. Die Härchen seiner Nase zitterten, als schnuppere er wollüstig. Da hob Martin Krüger die Hand und schlug ihm ins Gesicht. Es war eine große Genugtuung. Aber sie wollte bezahlt sein. Der Direktor nämlich, klüger als sein Gefangener, beherrschte sich, beschloß, den Schlag Krügers als einen Wahnsinnsanfall zu nehmen, schickte ihn in die Tobzelle.
Die Tobzelle war im Keller des Zuchthauses, ein sehr enger Käfig. Martin Krüger mußte sich entkleiden, man ließ ihm nur das Hemd. Man stieß ihn ein paar glitschige Steinstufen hinunter. Scharfer Gestank schlug ihm entgegen, herrührend von der Notdurft derer, die vor ihm dagesessen waren. Eswar Nachmittag, doch hier unten war es vollständig dunkel. Er tastete, wo er sei, stieß sich an Stäben, an Wänden. Spürte, daß der Boden nackt war, uneben, voll von Löchern. Sein Hemd war kurz, die scharfe Kälte lähmte; stand er auf, um sich zu bewegen, so schnitt sie wie Messer. Als man ihn in diese Tobzelle sperrte, mochte es vier Uhr nachmittags gewesen sein. Wenige Stunden später wußte er nicht mehr, ob es Nacht war oder schon Tag. Auch von dem Gestank spürte er nichts mehr. Ratten gab es viele in seinem Käfig; aber der Mann Krüger hatte kein Bedürfnis, mit ihnen zu sprechen. Er legte sich hin, er hoffte, zu erfrieren; erfrieren, hatte er gehört, sei ein guter Tod. Aber er konnte nicht liegenbleiben; die Ratten störten ihn. Vielleicht auch war es vor Hunger, daß er nicht einschlief. Er schrie, aber man hörte ihn nicht oder wollte ihn nicht hören. Später winselte er nur noch. Nach etlicher Zeit warf man ihm eine Matratze herein, auch etwas Brot.
Manchmal wußte er nicht genau, wo er war, nur daß er in Nacht, Hunger, Kälte, Gestank und inmitten von Ratten war. Er sehnte sich nach seiner Zelle. Einmal fiel ihm ein, daß er in Mitteleuropa war und im zwanzigsten Jahrhundert, und daß dieses Jahrhundert und dieses Stück Erde überzeugt waren, besser zu sein als frühere Zeiten und als Völker des Urwalds. Er erinnerte sich an Menschen, die er im Drahtverhau hatte hängen sehen, an Menschen, erstickend in Gas, an Menschen, verreckend unter den Kolbenschlägen der Befreier Münchens . Er suchte sich Erleichterung zu schaffen an der Vorstellung, daß diese Menschen noch elender waren als er; allein das war nicht wahr: sie waren nicht elender. Er dachte an Verse eines mittelalterlichen Dichters, Dante Alighieri mit Namen, Verse, die von der Hölle handeln, von Verhungernden, Verbrennenden, und er lachte über die primitive Phantasie dieses Dichters. Dann stand er auf, schwankend, die Glieder zerschnitten vor Frost, überaus schwach, und versuchte, in dem dunkeln Käfig die gewohnten Turnübungen zu machen. Es tat sehr weh, er mußte jeden Knochen einzeln hebenund stoßen; schließlich fiel er erschöpft hin. Dann schlief er wohl auch.
Als er erwachte, fühlte er sich nicht schlecht; er war zufrieden, daß er so schwach war, er hörte vergnügt auf das Getrippel der Ratten. Nur eines quälte ihn: daß ein bestimmter Vers jenes Dante ihm nicht einfallen wollte. Er sagte: »Dante era un trecentista.« Er sagte: »Nicht geboren sein ist das beste.« Er sagte: »Wie lange noch?« Er glaubte, es sehr laut zu sagen, aber er sprach so leise, daß nicht einmal die Ratten ihn hörten. Er versuchte, sich sämtlicher Gesichter zu erinnern, die er kannte. Er numerierte sie; aber er wußte, daß bestimmte Gesichter ihm fehlten, auch waren die Nummern immer andere. Er suchte sich Einzelheiten seines Arbeitszimmers ins Gedächtnis zu rufen. Das Ganze sah er sehr deutlich; aber gewisse Einzelheiten, immer wieder, fehlten ihm. Das ärgerte ihn. Es war wunderlich, was alles nebeneinander in der Welt ist. Sie ist so klein, was sind schon vierzigtausend Kilometer? Dennoch blieb es wunderlich, daß jetzt gleichzeitig
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