Erich Kastner
nickte erleichtert. Er beugte sich über das Gerüst, klatschte in die Händchen, gab mit seinem Zirpstimmchen Befehle, und jetzt ging alles wie der Blitz. Man hatte alles vorbereitet, und es klappte wie am Schnürchen. Das war mein Glück, denn ich hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen und getrunken. Erst fuhr die liliputanische Feuerwehr vor und legte ihre Brandleitern an. Und dann kletterten Hunderte schwerbeladener kleiner Kerle zu mir empor. Sie trugen Körbe mit Fleisch, gebratenes und geräuchertes, Säcke voller Brot und Fässer mit einem vorzüglichen Rotwein. Sie setzten ihre Lasten unter meinem Kinn ab, wo drei Dutzend mutige Matrosen darauf warteten, alles bis zu meinem Mund zu bugsieren. Der Würdenträger auf dem Gerüst beobachtete die Verköstigung durch ein Fernrohr. Die Mahlzeit war erstklassig, wenn sie auch recht umständlich verlief. Ihr müßt bedenken, daß ich beispielsweise einen am Spieß gebratenen Ochsen, samt den Knochen, kaute und verzehrte, als sei er ein Schinkenhäppchen! Die Kalbskeulen, Hammelrücken und Schweinshaxen schütteten sie mir korbweise in den offnen Mund, die Brote im halben Dutzend und den Wein, indem sie die Faßböden aufschlugen, und noch ihr größtes Faß enthielt nicht mehr als ein Schlückchen!
Endlich hatte ich mich sattgegessen und sattgetrunken und warf, zum Gaudium der Zuschauermenge, ein paar leere Fässer hoch in die Luft. Dann bedankte ich mich, so leise wie nur möglich, für die erwiesene Gastfreundschaft und – schlief ein.
1500 METER MIT 1500 PFERDEN
Ich schlief ein, weil man mir Schlafmittel in den Wein getan hatte! Der Kaiser hatte durch berittene Kuriere den gesamten Schlaftablettenvorrat von neunzig Apotheken herbeibringen lassen und befohlen, mich auf schnellstem Wege zur Hauptstadt zu befördern. Denn er, seine Gemahlin, der Hof und die übrigen fünfhunderttausend Einwohner wollten mich unbedingt kennenlernen.
Die Liliputaner sind vorzügliche Techniker, und kaum daß ich schlief, gingen sie an die Arbeit. Sie ließen sich nicht einmal durch mein Schnarchen stören, das für sie wie Donnergrollen klang. Fünfhundert Ingenieure und Zimmerleute bauten dicht neben mir ein Fahrzeug, das meiner Länge entsprach und auf zweimal zweiundzwanzig Rädern lief. Dann pflockte man mich los und hob mich mit Hilfe zahlreicher Flaschenzüge auf das Fahrgestell. Allein hierfür brauchten neunhundert Arbeiter, die an den Stricken hingen und zogen, drei volle Stunden. Sogar die Mittagspause mußte ausfallen. Als ich auf dem Fuhrwerk lag, wurde ich sorgfältig festgebunden, und dann endlich konnte die Reise losgehen. Ich wurde von fünfzehnhundert Pferden aus dem kaiserlichen Marstall gezogen, schlief wie ein Murmeltier und merkte von alledem nichts.
Da die Hauptstadt anderthalb Kilometer von der Küste entfernt lag, mußte die seltsame Karawane nachts im Freien kampieren. Zwei Regimenter der Gardebogenschützen wachten, mit brennenden Pechfackeln in der Hand, und hatten Befehl, wenn ich aufwachen und mich rühren sollte, mit einem Pfeilhagel zu antworten. Doch ich lag still und schnarchte, daß Himmel und Erde zitterten. In dieser Nacht konnten Tausende in der Hauptstadt keinen Schlaf finden, vor lauter Ungeduld, den »Menschenberg« zu sehen, wie man mich nannte. Sie rannten zu den Apotheken, um Schlaftabletten zu kaufen. Sie zerrten an den Nachtglocken. Doch es war zwecklos. Sämtliche Tabletten waren mir in den Wein getan worden.
Ich schlief auch noch am nächsten Tag, als wir vor den Toren der Stadt eintrafen, neben dem alten leerstehenden Tempel, den der Kaiser für mich als Unterkunft bestimmt hatte. Mindestens dreihunderttausend Liliputaner hatten sich versammelt. Viele hatten lange Leitern mitgebracht und wollten mich besteigen. Aber der Kaiser, der mit seinem Hofstaat auf der Zinne eines hohen Turms stand und mich durchs Opernglas betrachtete, hob die Absperrung erst auf, nachdem mir sein Hofschmied und dessen Gehilfen die unzerreißbare Fußkette angelegt und deren anderes Ende im Fundament des Tempels eingemauert hatten. Die Kette bestand aus neunzig schmalen Ketten und war an meinem linken Bein durch dreißig Vorhängeschlösser gesichert. Ihre Länge betrug drei Meter, so daß ich Spielraum haben würde, in den Tempel hinein-und aus ihm herauszukriechen.
Nun erst wurde ich zur Besteigung und näheren Besichtigung freigegeben, und Zehntausende machten von der Erlaubnis Gebrauch. Es ging auf mir zu, als läge ich in einem
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