Erich Kastner
Ameisenhaufen. Sogar der Kaiser selber wollte auf mich hinauf. Doch die Kaiserin erlaubte es ihm nicht. Und das war gut so. Denn kurz danach steckte mir ein Leutnant, der sich bis auf meine Oberlippe vorgewagt hatte, aus Übermut den Degen ins rechte Nasenloch, so daß ich fürchterlich niesen mußte! Bei der Panik, die nun ausbrach, hätte dem Kaiser leicht etwas zustoßen können.
Da ich durch mein Niesen aufgewacht war, sah ich noch, wie Tausende in heller Aufregung von mir herunterkletterten und davonliefen. Ich bemerkte auch den Kaiser auf dem Turm und zwinkerte ihm lächelnd zu. Das schien ihn zu beruhigen, und er gab den Befehl, mich von meinen Fesseln zu befreien. Das war ein schweres Stück Arbeit. Aber weder der Hofstaat auf dem Turm, noch die Bevölkerung wurde des Schauspiels müde. Sie sahen staunend zu, wie ich meine Finger bewegte und die Handgelenke massierte. Sie wichen zurück, als ich den Kopf hob. Erst als mir der Monarch gnädig zuwinkte, warfen sie vor Vergnügen ihre Mützchen und Hütchen in die Luft. Als er mir mit seinem Kaiserhändchen bedeutete, ich solle aufstehen, fuhr ihnen noch einmal der Schreck in die kleinen Glieder und sie wagten nicht zu atmen. Zunächst einmal setzte ich mich und blickte mich um. Dabei lächelte ich so sanft und friedlich wie ein Osterlamm. Trotzdem fielen zahlreiche Frauen in Ohnmacht. Sogar die Kaiserin wurde blaß und sank dem Kaiser in die Arme. Zum Überfluß brach, als ich meine Fußknöchel rieb und die Kette mit den Vorhängeschlössern betrachtete, auch noch das Fahrgestell unter meinem Gewicht zusammen. Ich war geistesgegenwärtig genug, um mich ein paar Minuten stillzuverhalten. Sonst hätte es bestimmt eine neue Panik gegeben. Ich betrachtete den Tempel und machte mir Gedanken. Er war in meinen Augen nicht höher und geräumiger als eine Hütte für einen großen Hofhund, und wie ein solcher Hund an der Kette würde ich auf allen vieren hineinkriechen müssen. Das war für einen englischen Schiffsarzt keine erfreuliche Vorstellung.
Als sich die Menge und auch der Hofstaat auf dem Turm unter mir wieder beruhigt zu haben schienen, befolgte ich den kaiserlichen Befehl: Ich stand auf. Ich erhob mich langsam zu meiner vollen Größe. Da ging ein »Ah!« der Bewunderung durch die Reihen und klang so laut, daß sogar ich es hören konnte. Und als ich mich anschließend tief verneigte, klatschte ganz Liliput samt dem Kaiser, seiner Gemahlin und den Ministern eine halbe Stunde lang in die Händchen. Das ist nicht übertrieben. Ich sah währenddem auf meine Taschenuhr.
DES KAISERS NEUE SORGEN
Ich kann nicht behaupten, daß ich mich in dem Tempel sonderlich wohlgefühlt hätte. Der Steinboden war kalt. Ich konnte mich nicht einmal ausstrecken oder umdrehen, weil die Tempelhalle zu schmal und zu kurz war. Und wenn ich mich im Traum aufsetzte, stieß ich mir Beulen am Kopf.
Tagsüber hielt ich mich im Freien auf. Zum Glück war, trotz des Novembers, in Liliput Sommer. Manchmal spazierte ich, mit der Kette am Bein, im Kreis um den Tempel herum. Meistens lag ich aber im Gras und wärmte mich in der Sonne. Auch das hatte seine Schattenseiten. Denn ich war immerzu von Zehntausenden staunender Liliputaner umlagert. Die Kinder spielten in meinem Haar Verstecken. Andenkenjäger kamen mit Äxten und Sägen, um meine Knöpfe zu stehlen. Ein andermal wollten mir sechs Halbwüchsige sogar die Nasenspitze abschneiden! Ich fing sie ein und behielt sie in der Faust, bis der Kaiser kam, der mir beim Mittagessen zuschauen wollte. Er sagte, ich dürfe mit den Halunken tun, was ich wolle. Da steckte ich fünf von ihnen in die Rocktasche, wo sie sich sehr ängstigten, und beim sechsten tat ich so, als wolle ich ihn fressen. Ich riß den Mund auf und schob das Kerlchen zwischen die Zähne. Doch dann lächelte ich und ließ alle sechs laufen. Über so viel Großmut zeigten sich das Volk und der Kaiser mit Recht gerührt, und die Geschichte machte in ganz Liliput die Runde.
Trotzdem bereitete dem Kaiser meine Anwesenheit schon damals beträchtliche Sorgen. Alle wollten mich sehen und bestaunen. Die Bauern kümmerten sich nicht um die Ernte. Die Handwerker ließen die Arbeit im Stich. Die Kinder, ja sogar die Lehrer schwänzten die Schule. Die Kaufleute sperrten die Läden zu. Man fuhr und lief und ritt zum Tempel vor der Hauptstadt, um den »Menschenberg« zu betrachten. Schließlich erließ die Regierung ein Gesetz, wonach es jedem Einwohner verboten wurde, mich öfter als
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