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Erich Kastner

Erich Kastner

Titel: Erich Kastner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gullivers Reisen
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schloß ich die Augen. Noch einmal versuchte ich, jetzt blitzwach und mit aller Kraft, mich zu setzen, zu drehen und zu wenden. Es war alles vergeblich. Bei der leisesten Bewegung taten mir die Haut und die Haare, die Knochen und Gelenke so abscheulich weh, daß ich in einem fort »Oh!« und »Aua!« rief. Ich war gefesselt. Doch wer, um alles in der Welt, hatte das Kunststück fertiggebracht, ohne daß ich aufgewacht war? Und womit hatte mich dieser Mensch gefesselt? Ich spürte keine Stricke, keine Ketten, keine Eisenklammern und keine Kupferdrähte. Und trotzdem lag ich, von den Fußknöcheln bis zu den Fingerkuppen und Haarspitzen, wie angeschmiedet und festgenagelt auf der Erde. Nur die Augäpfel und die Augenlider konnte ich bewegen, sonst nichts. War ich auf eine Zauberinsel geraten? Hatte man mich verhext? Während ich so dalag und hilflos in den blauen Himmel starrte, spürte ich, wie irgend etwas meine Hosenbeine heraufkrabbelte und sich vielfüßig auf mir fortbewegte. Waren es Ameisen? Oder Spinnen? Waren sie giftig? Dachten sie, ich sei tot? Als sich das verdächtige Gekrabbel meiner Brust näherte, hob ich mit einem energischen Ruck, der mir sehr weh tat, den Kopf um ein paar Zentimeter, blickte auf meine Weste, schrie auf und ließ den Kopf wieder ins Gras fallen. Das war doch nicht möglich! Wißt ihr, was ich gesehen hatte? Mindestens vierzig Menschen, keiner größer als mein kleinster Fingernagel! Alle miteinander auf meiner Brust! Und alle bewaffnet! Manche mit Lanzen und Speeren, manche mit Pfeil und Bogen, und ihr Offizier, winziger als ein Nürnberger Zinnsoldat, mit einem Degen! Fast die Hälfte der kleinen Kerle purzelte, weil ich geschrieen hatte, vor Schreck von mir herunter, und drei von ihnen brachen sich beim Sturz, wie ich später erfuhr, Arme und Beine.
    Jetzt wußte ich also, warum ich bei Nacht geglaubt hatte, die Gegend sei unbewohnt. Ich hatte nach erleuchteten Fenstern und nach Menschen Ausschau gehalten, aber doch nicht nach Zwergen!
    Noch dazu nach Zwergen, die fünfzigmal kleiner waren als die kleinsten Zwerge, die ich jemals auf Jahrmärkten bestaunt hatte!
    Während ich die Augen schloß, um besser nachdenken zu können, merkte ich, daß ich die linke Hand ein wenig bewegen konnte. Ich nahm alle Kraft zusammen und riß sie vom Boden los. Es gelang! Ich bekam den Arm bis zum Ellbogen frei! Drähte, dünn wie Spinnweben, und Pflöcke, zierlich wie Fliegenbeine, hingen an den Fingern und am Ärmel, kaum zu erkennen, und allesamt aus feinstem Stahl!

    Doch ehe ich die sonderbaren Fesseln näher betrachten konnte, prasselten mir Hunderte von winzigen Pfeilen ins Gesicht. Sie brannten wie Feuer. Zum Glück konnte ich mit der befreiten Hand die Augen bedecken! Und auch, daß ich die Lederweste trug, hatte sein Gutes. So heftig und kräftig die Soldaten auf meiner Brust ihre Speere, Lanzen und Degen in mich hineinzustoßen versuchten, so wenig brachten sie zuwege, weil sich ihre Waffen im Westenleder verbogen. Trotzdem schien es mir angebracht, mich nicht mehr zu bewegen. Und kaum lag ich still, hörten sie tatsächlich auf, mich mit ihren Speeren und Pfeilen zu belästigen. Erst nach Monaten, als ich die Landessprache verstand, erfuhr ich, daß ihr Land Liliput heiße und ein Kaiserreich sei. Die liliputanische Sprache zu verstehen, ist nicht einfach. Und zwar nicht nur wegen der seltsam klingenden Wörter, sondern auch, weil die Liliputaner sehr, sehr leise sprechen. Das hängt mit ihrer Kleinheit zusammen. Noch wenn ein General schnauzt oder ein Minister auf dem Großen Platz redet, klingt das für unsereinen wie Liebesgeflüster. Auch die Maschinen, ihre Glocken und ihre Marschmusik machen nicht den geringsten Lärm. Jedenfalls nicht für unsere großen Ohren.
    Aus diesem Grunde bauten sie wohl auch, während ich auf der Wiese lag, neben meinem rechten Ohr im Lauf einer Stunde ein hohes Gerüst, das dann ein bärtiger Würdenträger erkletterte. So konnte ich sein Gezwitscher wenigstens hören. Doch was nützte mir das? Verstehen konnte ich ihn ja trotzdem nicht! Deshalb rief ich, als er zu Ende gezwitschert hatte, aus Leibeskräften: »Ich habe einen Mordshunger!« Da hielt er sich vor Entsetzen die Ohren zu. Und als ich brüllte: »Herr Würdenträger, ich verdurste!«, wackelte das Gerüst, worauf er stand, wie ein Schiffsmast bei Windstärke zehn. Erst als ich mit dem linken Zeigefinger auf meinen Mund zeigte und schmatzend die Lippen bewegte, begriff er, was ich wollte, und

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