Erich Kastner
Aufnahmeprüfung für Beamtenanwärter und künftige Politiker. Sie mußten, in Gegenwart des Kaisers und einer Prüfungskommission, allerlei Kunststücke zeigen, woran man sehen konnte, ob sie sich für die Laufbahn eigneten oder ob sie zu ungeschickt seien. Sie mußten auf hohen Seilen tanzen, ohne herunterzufallen. Sie mußten Wasser auf zwei Schultern tragen, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Sie mußten auf dem Bauch unter Stricken mit Glöckchen durchkriechen, ohne sie zu berühren. Es gab Wettkämpfe im Dauerlügen, im Schlüssellochgucken, im Schuhsohlenlecken und im Herumgehen um den heißen Brei. Wer alles dies und dabei noch lächeln konnte, erhielt von der Kommission ein Empfehlungsschreiben. Die anderen fielen durch und mußten leichtere Berufe ergreifen. Sie wurden beispielsweise Löwenbändiger oder Dachdecker oder Ärzte, oder sie gingen zur Feuerwehr. AUF ZEHENSPITZEN DURCH DIE HAUPTSTADT
Der Zuneigung des Kaisers hatte ich es auch zu verdanken, daß er mir schließlich die Freiheit schenkte. Er ließ einen Vertrag aufsetzen, worin alles Erforderliche geregelt wurde. Der wichtigste Punkt war, daß ich mich verpflichtete, das Land Liliput nicht zu verlassen. Die Regierung ihrerseits garantierte mir Wohnung, Kleidung, auskömmliche Ernährung und Bedienung. Zu meinen Gegenleistungen sollte gehören, daß ich das Reich durch Abschreiten ausmäße und im Kriegsfall Hilfe leiste. Dieser Vertrag wurde vom Kaiser und mir feierlich beschworen. Nachdem der Obersthofmeister die Paragraphen dicht an meinem Ohr verlesen und der Hofschmied mit seinen Gesellen meine Fußfesseln gelöst hatte, leistete ich den Schwur in der vorgeschriebenen Weise. Ich mußte den rechten Fuß in die linke Hand nehmen, den Mittelfinger der rechten Hand auf den Kopf und den Daumen ans rechte Ohrläppchen legen. (Probiert es einmal, damit ihr seht, wie schwer das ist!) Und jetzt, nachdem ich den Eid geleistet hatte, war ich frei! Mein erster Wunsch war, die Hauptstadt besichtigen zu dürfen. Der Kaiser erklärte sich einverstanden und traf umgehend die erforderlichen Maßnahmen.
Mildendo, so heißt die Hauptstadt, ist quadratisch angelegt, und jede der vier Seiten ist hundertfünfzig Meter lang. Die beiden Haupt-und Prachtstraßen sind Mittelachsen, verlaufen rechtwinklig zueinander, und in ihrem Schnittpunkt, genau in der Stadtmitte, liegt der kaiserliche Palast. Die Häuser haben drei bis fünf Stockwerke. Die Stadtmauern sind dreißig Zentimeter hoch. Und die Einwohnerzahl, das sagte ich wohl schon, beträgt eine halbe Million.
Ich überstieg die Stadtmauer am Westtor. Die Straßen waren, wie der Kaiser verfügt hatte, menschenleer. Die Bewohner schauten aus den Fenstern. Besonders Vorwitzige hockten auf den Dächern. Es war ihr Glück, daß ich meinen Rock im Tempel gelassen hatte, aus Angst, die langen Rockschöße könnten die Dächer abdecken und die Dachrinnen losreißen. Meist ging ich auf Zehenspitzen und machte ganz, ganz kleine Schritte. Ich setzte einen Fuß langsam vor den andern und blieb oft stehen, um mir in Ruhe alles anzusehen. Mir war, als stiege ich durch einen hundertfünfzig Meter langen und breiten Spielzeugladen, und bei jedem Zentimeter könne ich etwas zertreten. Wie recht ich daran tat, zeigte sich, als ich meinen linken Fuß in den Äußeren Palasthof setzte. Denn dort stand, in Nichtachtung der kaiserlichen Verfügung, ein Leibjäger neben einer zweispännigen Hofkutsche. Als er meinen Schuh über sich bemerkte, rannte er entsetzt davon. Und wenn ich weniger achtgegeben hätte, wäre bestimmt ein Malheur passiert. Der Mittelhof des Palastes war so geräumig, daß ich mich hinlegen konnte. Der gesamte Hofstaat saß an den Fenstern, und am größten Fenster der Kaiser mit seiner Gemahlin. Sie rückte zur Seite, weil ich den herrlichen Saal bewundern wollte. Und als ich mich sattgesehen und bedankt hatte, reichte sie mir ihr mit Juwelen geschmücktes Miniaturhändchen aus dem Fenster, so daß ich einen Handkuß anbringen konnte. Dabei stieß ich versehentlich mit dem Kopf gegen die drei darüberliegenden Stockwerke, aber es lief glimpflich ab, denn die Palastmauern waren ziemlich stabil. Nur ein paar Hofdämchen fielen vom Stühlchen, und ein offnes Doppelfenster blieb mir in den Wimpern hängen. Der Kaiser drohte lächelnd mit dem Finger. Ich entschuldigte mich, so gut ich konnte, und machte mich behutsam auf den Heimweg. Meine Zehenspitzen taten mir noch nach Tagen weh.
Kein Land der Erde ist
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