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Erich Kastner

Erich Kastner

Titel: Erich Kastner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gullivers Reisen
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so klein, daß es ohne inneren Hader und äußere Feinde auskäme. Warum das so sein muß, werde ich nie verstehen, auch heute nicht, nun ich Großvater bin, aber es ist so. Und in Liliput war es nicht anders. Darüber klärte mich der Obersthofmeister, Reldresal hieß er, gründlich auf. Wenn er mich besuchte, setzte er sich auf meine Hand. Und wenn ich die Hand ans Ohr hielt, begann er zu erzählen. Ich sei ja jetzt nicht mehr Gefangener, sagte er, sondern ihr Bundesgenosse, und deshalb müsse ich Bescheid wissen. Zunächst berichtete er von den zwei großen Parteien, die sich erbittert bekämpften. Die Anhänger der einen nannten sich die Tramecksan und trugen Schuhe mit hohen Absätzen. Die Gegner trugen niedrige Absätze und hießen die Slamecksan. Zur Zeit seien die Slamecksan an der Macht, da der Kaiser mit flachen Absätzen regiere. Doch die Zukunft sei ungewiß, vor allem, weil die politische Haltung des Kronprinzen unklar bleibe.
    Ob mir schon aufgefallen sei, daß er hinke? Der junge Mann hinke nicht etwa, weil er ein längeres und ein kürzeres Bein habe, sondern weil er einen hohen und einen niedrigen Absatz trage! Wahrscheinlich wolle er es sich mit keiner der zwei Parteien verderben und halte sein Hinken für geschickte Diplomatie. Was er statt dessen erreicht habe, sei völlige Ratlosigkeit und Verwirrung. Niemand wisse, welche der Parteien nach des Kaisers Tod an die Regierung kommen werde. Und die Zahl der Bürger, die es dem Kronprinzen gleichtäte und verschieden hohe Absätze trage, nehme täglich zu. Überall in den Straßen sähe man neuerdings Leute, auch Beamte und Offiziere, die so hinkten, daß einem übel werden könne.
    Noch verderblicher, berichtete Reldresal, sei ein anderer Streit, da er schon seit Generationen herrsche und sogar zu blutigen Kriegen geführt habe. Er gehe darum, ob man das Frühstücksei am dicken oder am spitzen Ende aufschlagen solle! Weil sich einmal der Vater des jetzigen Kaisers beim Aufschlagen des Eies am dicken Ende als Kind in den Finger geschnitten hatte, war diese Art des Frühstückens für alle Zeiten verboten worden. Man mußte das Ei am spitzen Ende aufschlagen, oder man kam ins Gefängnis.
    Doch die Partei der Dick-Ender ließ sich nicht unterkriegen. Elftausend ihrer Anhänger gingen freiwillig in die Verbannung und bildeten auf der Insel Blefuscu eine Gegenregierung, die vom Kaiser jener Insel unterstützt wurde. In dem Krieg, zu dem die Spannung führte, verlor Liliput vierzig Kriegsschiffe sowie dreißigtausend Matrosen und Soldaten. Die Verluste der Feinde waren noch größer. Trotzdem schürte der Kaiser von Blefuscu das Feuer weiter. Es kam zu Revolutionen in Mildendo und anderen Städten und erneut zu verlustreichen Seeschlachten.
    Ich fragte, ob sich denn der Streit, an welchem Ende man Eier aufschlagen dürfe, nicht auf gütliche Weise beilegen lasse. Aber Reldresal sagte mit seinem dünnen Stimmchen: »Es geht um unsere Ehre, mein bester Gulliver. Da hat die Vernunft zu schweigen. Und wer ihr das Wort redet, ist ein Verräter.« Er fragte noch, ob das in meiner Heimat denn anders sei. Ich schüttelte den Kopf. »Da hast du’s!« meinte er befriedigt. »Wir Liliputaner sind ein großes Volk. Doch wir sind es nur, weil unser Ehrgefühl noch größer ist.«
DAS ENDE EINER KRIEGSFLOTTE
    Seit dieser Unterhaltung ging mir Blefuscu nicht mehr aus dem Kopf. Und als ich eines Tages das liliputanische Ufer abschritt, um dessen Ausdehnung zu vermessen, holte ich mein Fernrohr aus der Geheimtasche und blickte nach der feindlichen Insel hinüber. Sie war etwa siebenhundert Meter von mir entfernt, und ich konnte die Küste deutlich erkennen. Als ich den Hafen musterte, wäre mir das Fernrohr fast aus der Hand gefallen. Denn ich entdeckte fünfzig Schlachtschiffe und eine noch größere Zahl Transportsegler, die zur Ausfahrt bereitlagen! Da galt es, keine Zeit zu verlieren. Jede Minute war kostbar.
    Eilends lief ich durch die abgeernteten Felder, sprang über die Dörfer und Teiche, vermied die Landstraßen, damit ich niemanden zerträte, und hielt erst am Westtor der Hauptstadt still. Dort nahm ich einen Wachoffizier hoch und sagte ihm, ich müsse auf der Stelle den Kaiser sprechen. Es handle sich um eine Sache auf Leben und Tod. Und da ich den Verkehr in der Stadt nicht gefährden wolle, bäte ich den Monarchen, mich vorm Tor aufzusuchen. Nachdem der Offizier aufs Pferd gestiegen und zum Palast geritten war, legte ich mich ins Gras und dachte mir einen

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