Erik der Wikinger
rutschte der Verband von seinem Hals, so daß die Wunde blutete und der Frost sich tief in sie hineinfraß; und die Kälte ließ sein Haar gefrieren. Als er in die Höhle ging, in der die Männer schliefen, konnte er das Haar nicht von der Wunde lösen und legte sich so schlafen. Am Morgen war das Haar so fest an seinen Hals geklebt, daß man es nur hätte lösen können, indem man es abschnitt. Aber dies wollte Erik nicht. Niemand außer Gudruda dürfe ihm das Haar schneiden, sagte er. Das hatte er geschworen, und als er diesen Eid gebrochen hatte, war das Unglück über ihn gekommen. Er wollte den Schwur nicht wieder brechen, und wenn es ihn das Leben kostete. Denn das Leid und sein unglückliches Los hatten so sehr Besitz von Eriks Geist ergriffen, daß er in mancher Hinsicht ein anderer geworden war.
So wurde er krank und kränker, bis er sich schließlich nicht mehr von seinem Bett in der Höhle erheben konnte, sondern Tag und Nacht dort lag und das kleine Licht anstarrte, das die Finsternis durchdrang. Noch immer wollte er nicht, daß jemand sein Haar berührte. Und als sich jemand im Schlaf an ihn heranschlich, um ihm das Haar zu schneiden, und dabei die Wunde berührte, setzte er sich plötzlich auf und versetzte dem Mann solch einen harten Schlag auf den Schädel, daß er beinahe daran gestorben wäre.
Dann sprach Skallagrim.
»In dieser Angelegenheit«, sagte er, »scheint Hellauge toll zu sein. Er will nicht dulden, daß jemand anders außer Gudruda sein Haar berührt, aber wenn sein Haar nicht geschnitten wird, muß er sterben, weil die Wunde faulen wird. Wir können es nicht mit Gewalt schneiden, denn dann wird er sich im Kampf selbst töten. Also läuft es darauf hinaus: Entweder wir holen Gudruda hierher, oder Erik wird bald sterben.«
»Das darf nicht geschehen«, gaben die Männer zurück. »Aber wie könnte die Herrin Gudruda durch den Schnee zu uns kommen, selbst wenn sie dazu bereit ist?«
»Wenn sie den Mut dazu hat, kann es ihr gelingen«, sagte Skallagrim, »obwohl ich nur wenig Vertrauen in den Mut von Frauen setze. Dennoch werde ich zum Middalhof hinabreiten, und du, Jon, wirst mich begleiten. Und ihr anderen bewacht euren Herrn; denn wenn ich zurückkomme, und ihm ist etwas zugestoßen, wird es für euch den Tod bedeuten. Und wenn ich nicht zurückkehre, sondern unterwegs sterbe, werde ich euch dennoch verfolgen.«
Nun gefiel Jon seine Aufgabe nicht; doch aus Liebe zu Erik und aus Furcht vor dem Berserker brach er mit Skallagrim auf. Die Reise durch die Schneeverwehungen und die Dunkelheit war beschwerlich, doch am dritten Tag kamen sie zum Middalhof, klopften an die Tür und traten ein.
Nun war es Essenszeit, und die Leute, die beim Fleisch saßen, sahen einen mit Schnee und Eis bedeckten, großen schwarzhaarigen Mann durch die Halle schreiten, und neben ihm ging ein kleinerer, der unter der Kälte ächzte. Die Leute wunderten sich über den Anblick. Gudruda saß auf dem Hohesitz, und das Licht des Feuers fiel auf ihr Gesicht.
»Wer kommt da?« fragte sie.
»Einer, der gern mit dir sprechen würde, Herrin«, gab Skallagrim zurück.
»Es ist Skallagrim der Berserker«, sagte ein Mann. »Er ist ein Geächteter, laßt uns ihn töten!«
»Ay, es ist Skallagrim«, gab er zurück, »und wenn es hier Tote geben soll, dann wollen wir sehen, wer sie sein werden.« Und er zog die Axt und lächelte grimmig.
Da bewahrten alle Frieden, denn sie fürchteten Skallagrims Axt.
»Herrin«, sagte er, »ich komme nicht, um jemanden zu töten oder anderer Kinderspiele wegen, sondern um dir ein Wort ins Ohr zu sprechen – aber zuerst erbitte ich einen Becher Met und einen Bissen Fleisch, denn wir haben drei Tage im Schnee zugebracht.«
So aßen und tranken sie. Dann bat Gudruda den Berserker herbei und hieß ihn, seine Geschichte zu erzählen.
»Herrin«, sagte er, »Erik, mein Herr, liegt auf dem Moosberg im Sterben.«
Gudruda wurde weiß wie Schnee.
»Im Sterben? Erik liegt im Sterben?« sagte sie. »Warum bist du dann hier?«
»Aus diesem Grund, Herrin: Ich glaube, du kannst ihn retten, wenn es noch nicht zu spät ist.« Und er erzählte ihr die ganze Geschichte.
Nun dachte Gudruda eine Weile nach.
»Es ist eine beschwerliche Reise«, sagte sie, »und es geziemt sich nicht für eine Maid, Geächtete in ihren Höhlen zu besuchen. Und doch bin ich entschlossen, eher zu sterben als vor irgendeiner Tat zurückzuschrecken, die Erik das Leben retten könnte. Wann müssen wir reiten,
Weitere Kostenlose Bücher