Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
ihrem Mann geteilt hat. Die obere Koje war seine. Meist haben sie zusammen in der unteren gelegen. Jemand hat seine Bettwäsche entfernt.
Sie setzt sich auf den Rand ihrer eigenen Koje und schaut auf das Schott auf der anderen Seite der engen Kajüte. Sie muss sich jetzt zum Nachdenken zwingen.
Wie ist sie nur hier gelandet? Auf einem Schiff, das sich auf einem fremden Meer wiegt? Sie, die an einem Ort geboren ist, der unendlich weit vom Meer entfernt ist? Im Wasser des Ljungans gab es einen Kahn, das war alles. Sie durfte ihren Vater begleiten, wenn er zum Angeln hinausfuhr. Aber als sie sagte, sie wolle schwimmen lernen, da war sie sieben oder acht Jahre alt, erlaubte er es nicht. Das sei Zeitverschwendung. Baden könne sie am Ufer des Flusses. Wollte sie hinüber zur anderen Seite, gebe es ein Boot und eine Brücke.
Sie legt sich in die Koje und schließt die Augen. In der Erinnerung springt sie möglichst weit zurück, hinein in die Kindheit, wo die Schatten immer länger werden.
Dort kann sie vielleicht Schutz finden, bis der Augenblick gekommen ist, in dem ihr toter Mann im Meer verschwindet.
5
Die Kindheit: weit, weit da unten. Wie in der Tiefe einer Erdspalte.
Das war Hanna Lundmarks erste Erinnerung: Die Kälte, die an den Holzwänden zerrte, dicht neben ihrem Gesicht, wenn sie schlief. Sie wachte oft auf und fühlte, wie dünn die Schicht zwischen den angeklebten Zeitungen, die in dem Haus der Armut die Tapeten ersetzten, und der Kälte war, die sich durch das Holz zu nagen versuchte.
Im Frühling überholte ihr Vater das Haus, als wäre es ein Schiff auf der Werft, um es vor dem nächsten Wintereinbruch stark zu machen.
Die Kälte war ein Meer, das Haus ein Schiff, der Winter ein endloses Warten. Bis tief in den Herbst hinein dichtete er die morschen Spanten ab, bis der Frost kam. Da musste es gehen, wie es war. Das Haus wurde vom Stapel gelassen, und was noch durchlässig für die Kälte war, musste eben so bleiben.
Ihr Vater hieß Arthur Olaus Angus Renström. Er war Waldarbeiter, fällte Bäume für Iggesund und teilte das Zugpferd mit den Brüdern Salomonsson, die weiter unten am Fluss wohnten. Er schuftete für einen kargen Lohn, ohne zu wissen, ob der Lohn reichte oder nicht.
Hanna hatte ihren Vater als stark in Erinnerung, mit einem freundlichen Lächeln. Aber mitunter schwermütig und in Gedanken versunken, die sie nicht kannte. Vielleicht hatte er Trolle im Kopf, wenn er abwesend am Küchentisch saß, die Hände schwer im Schoß. Er war da in seinem Haus, bei seiner Familie, aber trotzdem nicht anwesend. Da lebte er in einer anderen Welt, wo die Steine zu Trollen wurden, die Rentierflechten zu Haaren, der Wind in den Kiefern zum Gemurmel von allen, die schon tot waren.
Er sprach oft von ihnen. Allen, die vorangegangen waren. Es erschreckte ihn, dass so wenige jetzt noch lebten und so unheimlich viele schon tot waren.
Es gab eine Krankheit, eine Epidemie, deren Namen alle Frauen kannten, die Schlägerkrankheit. Sie brach aus, wenn die Männer Alkohol im Leib hatten und alle schlugen, die in Reichweite waren, vor allem die Kinder und die Frauen, die sie schützen wollten. Freilich trank der Vater manchmal, wenn auch nicht oft. Aber er wurde nie gewalttätig. Deshalb sorgte sich seine Frau, Hannas Mutter, mehr um seine Schwermut als um den Branntwein. Wenn er trank, wurde er weinerlich und fing an, Choräle zu singen. Er, der sonst am liebsten alle Kirchen niedergebrannt und die Pastoren in den Wald gejagt hätte.
»Ohne Schuhe«, schrie er, wie Hanna sich erinnern konnte. »Pastoren ohne Schuhe bei der schlimmsten Kälte in den Wald. Dorthin sollte man sie jagen, in den Wald, barfuß.«
Die Großmutter, die in einem zugigen Häuschen unten am Rand des Funäsdalen wohnte, erschreckte Hanna zu Tode, wenn sie von ihrem verdammten Schwiegersohn sprach: Seine ganze Nachkommenschaft würde er mit seinem gottlosen Gerede in die Hölle schicken. Dort warteten Verbrühungen und Schwefel und entsetzliche glühende Kohlen unter den Fußsohlen. Ihre Großmutter war eine strafende und drohende Predigerin mit bösen Augen, die nicht zögerte, ihre Enkel so furchtbar zu erschrecken, dass sie zu weinen anfingen und nachts nicht schlafen konnten. Hanna betrachtete es als die größte aller Plagen, wenn sie ihre Mutter auf ihren regelmäßigen Besuchen bei der Großmutter begleiten musste.
Sie erinnerte sich auch an die ständige Wut der alten Frau, die ihrer Tochter nicht verzeihen konnte, diesen
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