Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
erkannten sie, wie nahe die Not jetzt gekommen war, und Elin sprach mit Hanna darüber, dass sie fortgehen müsse. Am Fluss gebe es keine Zukunft für sie. Sie müsse versuchen, an der Küste ihr Auskommen zu finden. Damals, als Elin und ihr Mann zum Flussufer gekommen waren und den ärmlichen Hof von einem Onkel übernommen hatten, da hätten sie keine Wahl gehabt. Es war 1883, nur sechzehn Jahre nach dem letzten großen Dürrejahr im Land. Wenn die Not jetzt wieder auf dem Weg sei, müsse Hanna fortgehen, solange noch Zeit war.
Sie standen am Waldrand, wo der stille Acker endete.
»Jagst du mich weg?«, fragte Hanna.
Elin strich sich über die Nase, wie sie es immer tat, wenn sie verlegen war.
»Ich bringe drei Kinder durch«, sagte sie, »aber nicht vier. Du bist erwachsen, du kannst fortgehen und es dir selbst und mir leichter machen. Ich will nur, dass du die Möglichkeit bekommst zu leben. Hier kannst du bestenfalls überleben, nicht mehr.«
»Was kann ich tun, wovon jemand unten an der Küste Nutzen hat?«
»Dasselbe, was du hier tust. Auf Kinder aufpassen, mit deinen Händen arbeiten. Mägde werden in den Städten immer gebraucht.«
»Wer sagt das?«
Sie hatte nicht widersprechen wollen. Aber Elin fasste es als Naseweisheit auf und packte sie fest am Arm.
»Ich sage das, und du kannst mir glauben, dass ich jedes Wort meine, das aus meinem Mund kommt. Ich tue es nicht, weil es mir Freude macht, sondern weil es sein muss.«
Sie ließ sie rasch los, als bereute sie alles.
Hanna verstand plötzlich, dass das, was ihre Mutter bestimmte, ihr sehr schwer fiel.
Diesen Augenblick vergaß sie nicht: Genau dort, am Rand der grimmigen Landschaft der Not, an der Seite ihrer Mutter, die zum ersten Mal weinte, wurde ihr bewusst, dass sie sie selbst war und niemand sonst.
Sie war Hanna und nicht austauschbar. Weder ihr Körper noch ihre Gedanken konnten von einem anderen Menschen ersetzt werden. Sie dachte auch, dass ihr verstorbener Vater genau wie sie gewesen war, ein nicht austauschbarer Mensch.
Ist es das, was es heißt, erwachsen zu werden? Sie wandte ihr Gesicht ab, damit ihre Mutter ihre Gedanken nicht lesen könnte. Die Unsicherheit der Kindheit gegen etwas anderes Unbekanntes einzutauschen? Zu wissen, dass es keine anderen Antworten gibt als die, die du selbst suchen und finden musst?
Sie kehrten zum Haus zurück, das sich in einem Wäldchen von spärlichen Birken und einem einzigen Ebereschenbaum duckte. Die Geschwister waren im Haus, obwohl es nicht herbstlich kalt war. Aber sie spielten weniger, wenn sie hungrig waren. Ihr Leben war ein einziges Warten auf Essen, nicht viel mehr.
Direkt vor der Tür blieben sie stehen, als hätte Elin beschlossen, ihre Tochter nie wieder einzulassen.
»In Sundsvall lebt mein Onkel Axel«, sagte sie. »Axel Andreas Wallén. Er arbeitet im Hafen. Er ist ein guter Mann, er und seine Frau Dora haben keine Kinder. Sie hatten zwei Jungen, aber beide starben, und dann bekamen sie keine mehr. Axel und Dora werden dir helfen. Sie werden dich nicht abweisen.«
»Ich will nicht wie eine Bettlerin dastehen«, sagte Hanna.
Die Ohrfeige kam ohne Vorwarnung. Später dachte Hanna, der Schlag hätte sie getroffen wie ein Raubvogel im Sturzflug, der auf ihre Wange gezielt hatte.
Vielleicht war es früher gelegentlich vorgekommen, aber dann aus Angst, dass Elin sie geschlagen hatte. Wenn Hanna allein an dem reißenden Frühlingsfluss gewesen war und es riskiert hatte, hineinzufallen und hinabgezogen zu werden. Aber jetzt hatte Elin sie aus Empörung geschlagen. Es war das erste Mal.
Die Ohrfeige wurde einer Erwachsenen von einer anderen Erwachsenen gegeben. Die verstehen würde, warum.
»Ich schicke meine Tochter nicht weg, damit sie eine Bettlerin wird«, sagte Elin erregt. »Ich will dein Bestes. Hier gibt es keine Zukunft für dich.«
Hannas Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Nicht vor Schmerz, sie hatte schon Schlimmeres erlitten.
Die Ohrfeige war eine Bestätigung dessen, was sie gerade gedacht hatte: Jetzt war sie allein auf der Welt. Sie würde sich nach Osten begeben, zur Küste, und sie durfte sich nicht umdrehen. Was hinter ihr lag, würde versinken.
Es war früh im Herbst 1903. Hanna Renström war siebzehn Jahre alt und würde am 12. Dezember achtzehn werden.
Ein paar Monate später würde sie ihr Zuhause für immer verlassen.
7
Hanna dachte: Die Zeit der Märchen ist vorbei. Jetzt gelten die Erzählungen des Lebens.
Das verstand sie, als Elin ihr
Weitere Kostenlose Bücher