Erinnerung Des Herzens
Einer davon war wahrscheinlich, einen Fahrer zu haben, der wie ein Leibwächter gebaut war, dachte sie, während sie einen Schuh abstreifte und den Fuß in den dicken Teppich einsinken ließ.
Sie fuhren an einer hohen Steinmauer vorüber zu einem sehr stabilen schmiedeeisernen Tor. Ein Wächter, auch in Uniform, spähte aus dem Fenster einer kleinen Steinhütte. Nach einem langen Summton öffnete sich das Tor langsam, fast majestätisch, und mit einem Klicken schloß es sich hinter ihnen wieder. Eingeschlossen und ausgeschlossen, dachte Julia, auch das ist ein Preis für den Ruhm.
Die Auffahrt wurde von schönen alten Bäumen gesäumt, und dazwischen waren Sträucher gepflanzt, die in diesem milden Klima früh zur Blüte kommen würden. Auf dem Rasen stolzierten ein Pfau und seine Henne, welche Schreie ausstieß, wie eine Frau. Julia kicherte, als Brandon vor Erstaunen den Mund sperrangelweit aufriß.
Dann kam ein Teich, der von Wasserlilien bedeckt war. Er wurde von einer phantasievoll konstruierten Fußgängerbrücke überspannt. Vor ein paar Stunden erst hatten sie den Nordosten des Landes mit seinem Schnee und dem eiskalten
Wind verlassen, und jetzt waren sie ins Paradies gelangt. In Eves Paradies.
Dann tauchte das Haus vor ihnen auf, und Julia war ebenso sprachlos wie ihr Sohn. Es war glänzend weiß wie der Wagen, besaß drei Stockwerke und war in Form eines »E« angelegt worden. Zwischen den einzelnen Trakten lagen zwei schöne Innenhöfe. Das Haus war so feminin, so zeitlos und hochgestylt wie die Frau, der es gehörte. Bogenförmige Fenster und Eingänge milderten die strengen Linien des Gebäudes, ohne sie zu verwischen. Die Gitter der Balkone in den oberen Stockwerken wirkten so zart wie weiße Spitzen. Einen lebhaften Kontrast dazu bildete die üppige Blumenpracht mit leuchtenden Farben wie Scharlachrot, Saphirblau, Purpurrot und Safrangelb.
Als Lyle die Wagentür öffnete, staunte Julia über die lautlose Stille ringsum. Kein Laut drang herein von der Welt jenseits der Mauer. Man hörte das Zwitschern der Vögel, das Flüstern des Windes in den Bäumen und das Plätschern des Wassers in einem Springbrunnen im Hof. An dem traumhaft blauen Himmel trieben ein paar zarte weiße Puderwölkchen.
»Ihr Gepäck wird direkt ins Gästehaus gebracht, Ms. Summers«, sagte Lyle. Er hatte sie während der Fahrt genau im Rückspiegel studiert und überlegte, wie er sie wohl am besten zu einer kurzen Balgerei in seinem Zimmer über der Garage bewegen könnte. »Miss Benedict hat gesagt, dass ich Sie zuerst hierher bringen soll.«
Sie reagierte nicht auf seinen vielsagenden Blick. »Danke.« Vor den abgerundeten weißen Marmorstufen, die zur Eingangstür führten, nahm Julia ihren Sohn an die Hand.
Eve trat vom Fenster zurück. Sie hatte die beiden zuerst einmal unbeobachtet sehen wollen. Julia wirkte noch zarter als auf den Photos, die sie von ihr kannte. Sie besaß einen ausgezeichneten Geschmack. Ihr erdbeerfarbenes Schneiderkleid und der Schmuck, den sie trug, fanden Eves volle Zustimmung. Ebenso ihre Haltung.
Und der Junge ... Der Junge hatte ein süßes Kindergesicht, das Tatkraft und Energie verriet. Er war in Ordnung, sagte sie sich und schloß die Augen. Sie waren beide in Ordnung.
Dann ging sie zu ihrem Nachttisch. In der Schublade lagen die Tabletten, von denen nur sie und ihr Arzt wussten, dass sie sie brauchte. Und eine schlecht gedruckte Nachricht auf billigem Papier.
Weck keine schlafenden Hunde.
Eve fand die Drohung lächerlich und eher ermutigend. Sie hatte noch gar nicht mit dem Buch angefangen, und schon brach einigen Leuten der Schweiß aus. Die Tatsache, dass nur wenige als Absender in Frage kamen, machte das Spiel noch interessanter. Sie bestimmte die Spielregeln, dachte sie. Sie hatte alle Fäden in der Hand. Es war an der Zeit, dass sie sie benutzte.
Sie goß sich aus einer Kristallkaraffe Wasser ein und schluckte die Pillen, wütend über ihren Schwächeanfall. Dann ging sie zu einem großen Spiegel in einem Silberrahmen hinüber. Sie musste damit aufhören, sich zu fragen, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen hatte, achtete sie nicht mehr auf Ratschläge anderer, auch jetzt nicht. Nie.
Ohne sich etwas vorzumachen, prüfte sie ihr Spiegelbild. Der smaragdfarbene Seidenanzug schmeichelte ihr. Erst vor einer Stunde hatte sie das Make-up aufgelegt und sich frisiert. An den Ohren, dem Hals und den Fingern glänzte Gold. Überzeugt davon, wie
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