Fluch der Nacht: Roman
Prolog
D ie Kälte hätte sie frösteln lassen müssen, doch es war Furcht, lähmende, unkontrollierbare Furcht, die Lara erfasste und sie bis ins Innerste erschaudern ließ. Sie kauerte auf dem Boden der Eishöhle und betrachtete die Mauern ihres Kerkers. Das dicke blaue Eis an den Wänden war schön und mit erstaunlichen Eisformationen geschmückt, die von der Decke herabhingen und vom Boden aufstiegen wie ein Wald aus farbenprächtigem Kristall. Lara machte sich noch kleiner und beobachtete die über das Eis flackernden Lichter, die glitzernde, helle Bilder an die Wände warfen. Und trotz all dieser Schönheit schlug das Herz ihr bis zum Hals, und sie erstickte fast an der immer größer werdenden Angst in ihr.
Ein leises Wispern in ihrem Kopf half ihr jedoch, sich zusammenzunehmen, sich zu konzentrieren und Ruhe zu bewahren, obwohl sie sich nur noch auf dem Boden zusammenrollen und weinen wollte. Sie war jetzt acht Jahre alt – war es gerade heute erst geworden. Lara senkte den Blick auf ihre Arme und Handgelenke, die mit Bisswunden bedeckt waren, mit Narben von Zähnen, die ihre Haut durchbohrten, um an ihre Venen heranzukommen. Heute war allerdings der letzte Tag, an dem jemand ihr das Fleisch zerfetzen und das Blut aussaugen würde ... denn heute würde sie all dem entfliehen.
Ich habe solche Angst. Ihre Stimme zitterte sogar in der telepathischen Verbindung, die sie aufzunehmen versuchte.
Augenblicklich spürte sie, wie die vertraute Wärme in ihren Kopf eindrang. Das Gefühl breitete sich in ihrem ganzen Körper aus, vertrieb die Kälte und gab ihr Mut. Du wirst nicht allein sein. Wir werden dir helfen zu entkommen. Du musst nur tapfer sein, Kleines.
Wirst du mitkommen, Tante Bronnie? Kommt ihr beide mit? Lara wusste, wie beklommen und hilflos sie sich anhörte, aber sie konnte nichts dagegen tun. Sie war noch nie über der Erde gewesen und wie gelähmt vor Furcht bei dem Gedanken, allein in eine unbekannte Welt hinauszutreten. Ohne ihre Tanten würde sie sich völlig schutz- und hilflos fühlen. Sie hatten sie so viele Zauber wie nur möglich gelehrt und sie in ihrem Kopf und ihrer Erinnerung verankert, doch sie war trotzdem immer noch ein Kind im Körper eines Kindes. Ein dünnes, schwaches, blasses Mädchen mit einem Wuschelkopf aus kupferroten, nicht zu bändigenden Haaren und so gut wie gar nichts anderem.
Das wird vielleicht nicht möglich sein, und wenn wir nicht mitkommen können, musst du allein gehen, Lara. Du musst diesen Ort weit hinter dir zurücklassen und deine Talente und Fähigkeiten vor allen verbergen, um nie wieder gefangen genommen zu werden. Verstehst du das, Lara? Du darfst in der Außenwelt in keinster Weise auffallen.
Sie hatten ihr von dieser Welt erzählt. In langen, einsamen Nächten hatten sie von Orten über der Erde geflüstert, von der Sonne und dem Meer, von Wäldern voller Bäume und von lebendigen Tieren und Vögeln, die in Freiheit lebten. Sie hatten ihren Kopf – und ihr Herz – mit Bildern gefüllt, die so wunderschön waren, dass sie Lara den Atem geraubt hatten.
Aber warum muss ich meine Gaben vor der Außenwelt verbergen? Lara fröstelte wieder und rieb mit beiden Händen über ihren Körper, um sich aufzuwärmen. Es war nicht die Temperatur in der Eishöhle – ihre eigene Körpertemperatur konnte sie kontrollieren, wenn sie es nicht zu tun vergaß -, doch der Gedanke, die Höhle zu verlassen, war fast ebenso beängstigend wie die Vorstellung zu bleiben. Hier hatte sie zumindest ihre Tanten. Da draußen hingegen ... Sie wusste nicht einmal, was sie dort zu erwarten hatte.
Es ist immer besser, sich anzupassen, Lara. Xavier ist ein grausamer Mann – und es gibt noch andere wie ihn. Du hast große Macht in dir, und andere werden sie für sich benutzen wollen. Lerne im Geheimen und benutze deine Macht nur, wenn du sie brauchst, um Gutes zu tun oder dein Leben zu retten! Du darfst andere nichts davon wissen lassen.
Kommt mit mir!, flehte Lara.
Wenn wir können, ja, aber du musst diesen Ort auf jeden Fall verlassen, Lara. Du siehst ja, was sie uns antun – und was sie auch dir antun werden. Deine Macht wird sie berauschen, und sie werden dir alles nehmen, Kind.
Lara schloss die Augen, als das Zittern in ihr so stark wurde, dass das Grauen sie förmlich schüttelte. Oh ja, sie hatte gesehen, was ihre Tanten meinten! Folter. Schauerliche Folter. Grässliche schwarze Magie, die Dämonen mit rot glühenden Augen und dem ekelerregenden Gestank des Bösen
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