Erlösung
saßen eine Weile schweigend im Auto, schließlich ergriff Carl das Wort.
»Ich glaube nicht, dass ich schon mal Menschen gesehen habe, die mit ihren Kräften und Nerven so am Ende waren wie diese beiden.«
»Es kam mir so vor, als sei es ihnen besonders schwergefallen,Flemmings Foto aus der Schublade zu holen. Glaubst du, dass sie es wirklich seit seinem Tod nicht mehr angesehen haben?«, fragte Assad und zog seine Daunenjacke aus. Nun wurde ihm also doch warm.
Carl zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber sie wollten auf keinen Fall riskieren, dass jemand Wind davon bekommt, wie sehr sie den Jungen noch lieben. Sie hatten ihn ja selbst verstoßen.«
»Wind? Ich verstehe nicht, was du meinst, Carl.«
»Wind von etwas bekommen. Etwas spitzkriegen.«
»Spitz?«
»Vergiss es, Assad. Was ich sagen will: Seit Jahren halten sie die Liebe zu ihrem Sohn geheim. Niemand darf davon erfahren. Denn sie trauen niemandem mehr, sie können ja nicht wissen, wer Freund und wer Feind ist.«
Assad saß ganz still und ließ den Blick über die braunen Felder schweifen, unter deren Oberfläche sich schon Leben regte. »Was glaubst du, Carl, wie oft hat er das gemacht?«
Was zum Teufel sollte er darauf antworten? Es gab keine Antwort.
Assad kratzte seine blauschwarzen Wangen. »Aber so viel steht fest: Wir müssen ihn kriegen, Carl. Oder?«
Carl biss die Zähne zusammen. Ja, das mussten sie, völlig klar. Das Ehepaar in Tølløse hatte ihnen einen neuen Namen genannt. Bei ihnen hatte der Entführer Birger Sloth geheißen. Und zum dritten Mal war ihnen die Personenbeschreibung einigermaßen bestätigt worden. Allerdings hatte Martin Holt wohl recht gehabt. Die Augen standen nicht so eng beieinander. Und alles andere, Schnurrbart, Haare, Blick, das war ohnehin nicht zu kalkulieren. Letztlich wussten sie also lediglich, dass er ein Mann mit zwar scharfen, aber dennoch diffusen Gesichtszügen war. Und dass er in zwei Fällen das Geld entlang derselben Bahnlinie aufgelesen hatte. Und zwar am Streckenabschnitt zwischen Vedbysønder und LindebjergLynge. Sie wussten schon, wo. Das hatte Martin Holt klar beschrieben.
Höchstens zwanzig Minuten bis dorthin. Nur war es jetzt zu dunkel. Ärgerlich.
Darum würden sie sich morgen früh als Allererstes kümmern müssen.
»Was machen wir denn nun mit unserer Yrsa-Rose?«, wollte Assad wissen.
»Wir machen nichts. Wir bemühen uns, damit zu leben.«
Assad nickte. »Sie ist eben ein Kamel mit drei Höckern«, sagte Assad.
»Ein was?«
»Wo ich herkomme, sagen wir das so. Bisschen eigen. Schwer zu reiten, aber witzig anzusehen.«
»Ein Kamel mit drei Höckern, ja, das passt. Klingt auch genießbarer als schizophren.«
»Schizophren? Da, wo ich herkomme, sagen wir das von jemandem, der auf einer Kanzel steht und einen anlächelt, während sein Arschloch auf einen scheißt.«
Da war es schon wieder.
38
Es war so undeutlich und so weit weg. Wie das Ende von Träumen, die nie aufhören. Wie die Stimme einer Mutter, an die man sich kaum erinnert. »Isabel. Isabel Jønsson, wachen Sie auf!« Es dröhnte, als wäre der Kopf zu groß, um die Wörter zu fassen.
Und sie wand den Körper ein wenig, spürte aber nichts als den drückenden Zugriff des Schlafs. Dösend, zwischen eben und jetzt schwebend.
An ihrer Schulter wurde vorsichtig gerüttelt. Sanft, einfühlsam, mehrere Male.
»Sind Sie wach, Isabel?«, fragte die Stimme. »Versuchen Sie, tief zu atmen.«
Sie spürte, wie schnipsende Laute an ihrem Gesicht vorbeizogen. Aber deutlicher wurde es nicht.
»Sie hatten einen Unfall, Isabel«, sagte jemand.
Irgendwie wusste sie das.
War das nicht gerade erst passiert? Erst ein Schleudern und dann dieses Untier, dieser Mann, der sich ihr im Dunkeln näherte. War es so?
Sie merkte ein Piksen im Arm. War das real oder träumte sie?
Plötzlich spürte sie, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Wie sich etwas im Kopf sammelte und wie die Gedanken Ordnung in das Chaos brachten. Eine Ordnung, die sie nicht wollte.
Denn mit der Ordnung kam es zurück. Er! Der Mann! Jetzt erinnerte sie sich undeutlich an ihn.
Sie keuchte. Spürte, wie es im Hals pikste und wie der Drang zu husten Erstickungsgefühle hervorrief.
»Bleiben Sie ganz ruhig, Isabel«, sagte die Stimme. Sie spürte eine Hand, die ihre ergriff und sie drückte. »Wir haben Ihnen eine Spritze gegeben, damit Sie ein wenig aufwachen. Das ist alles.« Dann drückte die Hand wieder.
Ja, sagte alles in ihr. Drück du auch, Isabel.
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