Erlösung
Zeig, dass du lebst, dass du noch hier bist.
»Sie sind ziemlich schwer verletzt, Isabel. Sie liegen auf der Intensivstation des Rigshospitals. Verstehen Sie, was ich sage?«
Sie hielt die Luft an und konzentrierte alle Kräfte, um zu nicken. Nur eine kleine Bewegung. Nur so viel, dass sie selbst sie auch spürte.
»Das ist gut, Isabel. Wir haben es gesehen.« Dann wurde ihre Hand wieder gedrückt.
»Wir haben Sie ins Streckbett gelegt. Sie können sich nicht bewegen, falls Sie das versuchen. Sie haben zahlreiche Knochenbrüche, Isabel, aber Sie werden wieder gesund. Im Augenblick haben wir sehr viel zu tun, aber sobald etwas Ruhe einkehrt, kommt eine Krankenschwester und macht Sie fertig, und dann werden Sie auf eine andere Station verlegt. Verstehen Sie das, Isabel?«
Sie zog etwas an den Halsmuskeln.
»Gut. Wir wissen, dass es schwer für Sie ist zu kommunizieren. Aber schon bald werden Sie wieder sprechen können. Ihr Kiefer ist gebrochen, und deshalb haben wir ihn sicherheitshalber fixiert.«
Jetzt spürte sie die Klammern um ihren Kopf. Die Beutel, die sich um ihre Hüften schlossen. Als wäre sie im Sand begraben. Sie wollte die Augen aufschlagen.
»Ich sehe an Ihren Augenbrauen, dass Sie die Augen öffnen wollen, Isabel. Aber die haben wir verbinden müssen. Sie hatten viele Glassplitter in den Augäpfeln. Aber Sie werden wieder sehen können: In ein paar Wochen scheint die Sonne wieder.«
In ein paar Wochen! Was war das denn, was stimmte nicht? Warum dieses Prickeln in ihrem Körper? Protestierte der, weil keine Zeit war?
Komm schon, Isabel, flüsterte es in ihr. Was darf nicht passieren? Was ist passiert? Der Mann, ja. Und was sonst noch?
Und sie dachte, dass die Wirklichkeit vieles ist. Der Liebste, der nie kam, aber in ihren Träumen lebte. Die Taue an der Decke der alten Turnhalle, an deren Enden sie nie heranreichte. Und die Wirklichkeit war auch das, was noch nicht geschehen war. Der Druck auf die Schläfen war derselbe. Das Gefühl genauso konkret.
Sie atmete langsam und lauschte auf jeden einzelnen Druck, aus allen zusammen bildete sich ihr Bewusstsein. Erst kam das Unbehagen, dann die Unruhe und zum Schluss ein Zittern, das Gesichter und Töne und Wörter in ihre verschmelzenden Gedankenketten brachte.
Wieder merkte sie dieses reflexhafte Keuchen, das mit der Erkenntnis kam.
Die Kinder.
Der Mann, der auch Entführer war.
Und Rachel.
»Hmnnnn«, hörte sie sich selbst.
»Ja, Isabel!«
Sie spürte, wie die Hand losgelassen wurde und wie ihr warme Luft übers Gesicht strich.
»Was sagen Sie?« Die Stimme war ganz nahe.
»Aaaeeehh.«
»Versteht jemand, was sie sagt?«, kam es nun von etwas weiter weg.
»Aaarrglll.«
»Isabel, meinen Sie Rachel?«
Sie stieß einen kurzen Laut aus. Ja, das hatte sie gesagt.
»Meinen Sie die Frau, mit der Sie zusammen eingeliefert wurden?«
Da kam wieder dieser Laut.
»Rachel lebt, Isabel! Sie liegt hier neben Ihnen«, sagte eine neue Stimme vom Fußende her. »Sie ist schwerer verletzt als Sie. Viel schwerer. Es ist noch unklar, ob sie es schafft. Aber sie lebt und ihr Körper scheint stark zu sein. Wir hoffen das Beste.«
War eine Stunde oder eine Minute oder schon ein ganzer Tag vergangen, seit sie bei ihr gewesen waren? Sie wusste es nicht. Sie hörte leise Geräusche von Maschinen und das schwache Piepen ihres eigenen Herztons. Die Unterlage fühlte sich klamm an, der Raum war warm. Vielleicht hatte man ihr etwas gespritzt, und sie fühlte sich deshalb so. Vielleicht lag es aber auch an ihr.
Vom Gang her hörte sie gedämpft Stimmen und das Scheppern von Rollwagen. War Essenszeit? Oder war es Nacht? Sie hatte keine Ahnung.
Sie brummelte etwas, aber nichts geschah. Da konzentrierte sie sich auf das Intervall zwischen ihrem Herzschlag und dem Pochen im Mittelfinger, an dem irgendetwas angebracht war. Waren es Millisekunden oder Sekunden? Auch das wusste sie nicht.
Aber etwas wusste sie. Die Maschine, die den Herzschlag hörbar machte, war nicht bei ihr angeschlossen. Das merkte sie, denn das passte nicht zusammen. So weit war sie doch bei Bewusstsein.
Einen Moment hielt sie die Luft an. Da war das Piepen klar zu hören. Piep, piep, piep. Und ein Geräusch wie ein leises Schwappen. Wie ein Saugen, das jäh abbrach und erneut ausgelöst wurde, wie bei diesen pneumatischen Bustüren.
Das Geräusch kannte sie. Das hatte sie in endlosen Stunden am Krankenbett ihrer Mutter gehört, bis der Respirator endlich abgestellt wurde und sie
Weitere Kostenlose Bücher