Erlösung
fünfzig, deren Augen noch größer waren als die von Assad. Kaum hatte sie Assads dunkle Bartstoppeln gesehen, zog sie sich erschrocken in den Hausflur zurück und rief nach ihrem Mann. Sie hatte natürlich von all den Überfällen gelesen und sah sich sofort selbst als potenzielles Opfer.
»Ja«, sagte der Mann und machte keinerlei Anstalten, auch nur das mindeste Entgegenkommen zu zeigen.
Dann eben weiter auf die Finanzamtstour, dachte Carl und ließ die Dienstmarke in der Hosentasche.
»Sie haben einen Sohn, Flemming Emil Madsen. Der hat, soweit wir das zurückverfolgen können, noch nie Steuern gezahlt. Kontakt zu den Sozialämtern oder der Schulbehörde hat er auch nicht. Darüber würden wir gern mit ihm persönlich sprechen.«
Da ging Assad dazwischen. »Sie sind Gemüsehändler, Herr Madsen. Arbeitet Flemming bei Ihnen?«
Carl kapierte die Taktik. Den Mann gleich in die Ecke drängen.
»Sind Sie Moslem?«, entgegnete Madsen. Die Frage kam aus heiterem Himmel, ein glänzender Schachzug.
»Das, glaube ich, ist allein die Angelegenheit meines Kollegen«, sagte Carl.
»Nicht in meinem Haus«, antwortete der Mann und wollte die Tür zuknallen.
Da zog Carl doch die Marke aus der Tasche.
»Hafez el-Assad und ich arbeiten zusammen an unaufgeklärten Mordfällen. Wenn Sie Ihren Kopf auch nur einen Millimeter höhnisch wegdrehen, verhafte ich Sie auf der Stelle wegen Mordes an Ihrem eigenen Sohn Flemming vor fünf Jahren. Was sagen Sie dazu?«
Der Mann sagte gar nichts, war aber offenkundig erschüttert. Nicht wie jemand, der für etwas beschuldigt wird, was er nicht getan hat, sondern wie einer, der tatsächlich schuldig ist.
Sie traten ins Haus und wurden zu einem Mahagonitisch geführt, der vor fünfzig Jahren der Traum jeder Familie gewesen wäre. Es gab kein Wachstuch, dafür aber jede Menge Platzdeckchen.
»Wir haben nichts Verbotenes getan«, murmelte die Frau und fummelte an dem Kreuz herum, das an einer Kette in ihrem Ausschnitt hing.
Carl sah sich um. Mindestens drei Dutzend gerahmte Fotos von Kindern aller Altersklassen standen auf den Eichenmöbeln. Kinder und Kindeskinder. Lächelnde Geschöpfe vor einem hohen Himmel.
»Sind das Ihre anderen Kinder?«, fragte Carl.
Sie nickten.
»Die sind alle ausgewandert?«
Wieder nickten sie. Keine sonderlich gesprächigen Menschen, fand Carl.
»Alle nach Australien?«, meldete sich Assad.
»Sind Sie Moslem?«, fragte der Mann noch einmal. Verdammt stur. Hatte er Angst, allein schon beim Anblick eines Andersgläubigen zu Stein zu werden?
»Ich bin, wozu Gott mich geschaffen hat«, antwortete Assad. »Und Sie? Sind Sie das auch?«
Die kleinen Augen des Mannes wurden zu Schlitzen. Er war es vielleicht gewohnt, Diskussionen dieser Art auf der Türschwelle anderer Menschen zu führen, aber nicht bei sich zu Hause.
»Ich fragte, ob Ihre Kinder alle nach Australien ausgewandert sind?«, wiederholte Assad.
Da nickte die Frau. So funktionierte das also.
»Hier«, sagte Carl und legte die Phantomzeichnung des Entführers vor sie hin.
»In Jesu Namen«, flüsterte die Frau erschrocken und bekreuzigte sich. Der Mann presste die Lippen zusammen.
»Wir haben zu niemandem je etwas gesagt«, murmelte er schließlich.
Carl kniff die Augen zusammen. »Wenn Sie glauben, wir hätten etwas mit dem Kerl zu tun, dann irren Sie sich. Aber wir sind ihm auf der Spur. Wollen Sie uns bei unseren Ermittlungen helfen?«
Die Frau schnappte nach Luft.
»Entschuldigen Sie, dass wir so barsch waren«, sagte Carl versöhnlich. »Wir mussten Sie nur irgendwie aus der Reserve locken.« Er tippte auf das Bild. »Können Sie bestätigen, dass dieser Mann Ihren Sohn Flemming entführt hat und vermutlich auch eines ihrer anderen Kinder und dass er Flemming ermordet hat, nachdem Sie dem Entführer eine große Summe Lösegeld übergeben haben?«
Der Mann wurde blass. All die Kraft, die er im Laufe der Jahre mobilisiert hatte, um stark zu bleiben, verließ ihn in diesem Moment. Die Kraft, um seine Glaubensbrüder und -schwestern anzulügen, die Kraft, um all das, was ihm lieb und teuer gewesen war, zu verlassen und aufzugeben, die Kraft, um die Isolation zu ertragen, um sich von den übrigen Kindern zu verabschieden und um mit dem Verlust seines Vermögens klarzukommen. Und nicht zuletzt die Kraft, der es bedurfte, unter dem Damoklesschwert zu leben, dass der Mörder des geliebten Flemming frei herumlief und sie überwachte.
Diese Kraft war auf einen Schlag verbraucht.
Sie
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