Erlösung
Frieden gefunden hatte.
Die Patientin, mit der sie das Zimmer teilte, konnte alsonicht selbstständig atmen. Und diese Patientin war Rachel. Hatten sie das nicht gesagt?
Sie hätte sich gern umgedreht. Die Augen aufgeschlagen und das Dunkel durchdrungen. Sie wollte den Menschen sehen, der um sein Leben kämpfte.
Rachel, würde sie sagen, wenn sie könnte. Rachel, das schaffen wir. Das würde sie noch hinzufügen, aber es nicht wirklich ernst meinen.
Vielleicht gab es für Rachel nichts mehr, für das sie aufwachen wollte. Und plötzlich erinnerte sie sich nur zu deutlich.
Rachels Mann war tot.
Irgendwo dort draußen warteten zwei Kinder. Und der Entführer hatte keinen Grund mehr, sie am Leben zu lassen.
Es war entsetzlich. Und sie konnte nichts tun.
Sie spürte Flüssigkeit, die in die Augenwinkel sickerte. Dickflüssiger als Tränen und doch so leicht fließend. Spürte, wie die Gaze, mit der ihr Kopf bandagiert war, sich schwerer auf die Lider legte.
Weine ich Blut?, dachte sie und versuchte, das Gefühl der Trauer und Ohnmacht nicht länger zuzulassen. Denn was nützte dieses Schluchzen! Nein, es verursachte nur Schmerzen, die all die Medikamente, die sie ihr gegeben hatten, nicht dämpfen konnten.
Sie hörte, dass die Tür leise geöffnet wurde, und spürte, wie die Luft und die Geräusche vom Gang in den stillen Raum eindrangen.
Schritte waren zu hören. Langsam und zögernd. Fast zu zögernd.
War das ein besorgter Arzt, der jetzt an Rachels Bett stand und die Kurven auf ihrem Monitor betrachtete? Eine Krankenschwester, die überlegte, ob der Respirator richtig eingestellt war?
»Isabel, bist du wach?«, drang flüsternd eine Stimme durch das Geräusch der Maschinen.
Sie zuckte zusammen. Warum, wusste sie nicht.
Dann nickte sie kaum merklich, aber offenbar deutlich genug.
Sie spürte, wie jemand ihre Hand nahm. Wie damals, als sie ein Kind war und sich auf dem Schulhof beiseitegeschubst fühlte. Wie damals, als sie vor der Tanzschule stand und sich nicht traute, hineinzugehen.
Damals wie heute dieselbe Trost spendende Hand. Eine warme, großzügige Hand. Die Hand ihres Bruders. Die Hand ihres liebevollen, beschützenden großen Bruders.
Und in diesem Moment, als sie sich endlich geborgen wusste, erwachte in ihr der Drang zu schreien.
»Ja, ja«, sagte ihr Bruder. »Weine nur, Isabel. Lass alles mit den Tränen raus. Alles wird gut. Ihr schafft es alle beide, du und deine Freundin.«
Schaffen wir es?, dachte sie und bemühte sich, ihre Stimme, ihre Zunge, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen.
Hilf uns, wollte sie sagen. Durchsuch mein Auto. Du findest seine Adresse im Handschuhfach. Auf dem Navi kannst du rekapitulieren, wo wir waren. Du wirst den Fang deines Lebens machen.
Sie wäre vor Rachels Herrn im Himmel niedergekniet, wenn er ihr nur für einen kleinen Moment die Fähigkeit zu sprechen gegeben hätte. Nur ganz kurz, ein, zwei Sekunden.
Stattdessen lag sie stumm da und hörte ihr eigenes Röcheln. Wörter, die sich in Konsonanten auflösten, Konsonanten, die sich in Flüstern und in Spucke zwischen den Zähnen auflösten.
Warum hatte sie ihren Bruder nicht angerufen, als Zeit dafür gewesen war? Warum hatte sie nicht getan, was sie hätte tun sollen? Hatte sie geglaubt, übermenschliche Kräfte zu haben und den Teufel selbst aufhalten zu können?
»Gut, dass nicht du gefahren bist, Isabel. Aber um das rechtliche Nachspiel dieser Wahnsinnsfahrt wirst du trotzdem nicht ganz herumkommen, auch als Beifahrerin nicht.Tja, und dann musst du dich wohl nach einem neuen Auto umschauen.« Mit einem Auflachen versuchte ihr Bruder einen leichten Ton anzuschlagen.
Aber es gab nichts zu lachen.
»Was ist denn da passiert, Isabel?«, fragte er, obwohl von ihrer Seite noch nicht ein einziges Wort gekommen war.
Sie spitzte ein wenig die Lippen. Vielleicht konnte er sie so besser verstehen?
In dem Moment war von Rachels Bett her eine dunkle Stimme zu hören.
»Tut mir leid, aber Sie können nicht im Zimmer bleiben, Herr Jønsson. Isabel wird jetzt verlegt. Vielleicht möchten Sie in der Cafeteria warten? Wir werden Sie dann informieren, wohin wir Isabel gebracht haben. Können Sie vielleicht in einer halben Stunde wiederkommen?«
Sie erkannte die Stimme nicht als eine von denen, die früher am Tag bei ihr im Zimmer gewesen waren.
Aber als die Stimme ihre Bitte wiederholte und sich ihr Bruder erhob, sie vorsichtig drückte und verkündete, er käme später wieder, da wusste sie, dass das
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