Erloschen
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Maggie parkte einen Block weit entfernt. In ihrem Kopf hatte das vertraute Pochen eingesetzt, an derselben Stelle, auf derselben Seite. Ein Stepptanz in ihrer linken Schläfe. Sie blieb hinterm Lenkrad ihres Wagens sitzen. Schwarze Rauchwolken quollen über ihr auf. Sie blickte hinauf zu den Flammen, die aus den Fenstern des vierstöckigen Gebäudes schossen und das Dach auffraßen. Selbst aus einem Block Entfernung lähmte sie der Anblick, beschleunigte ihren Herzschlag und quetschte ihr die Luft aus der Lunge.
Angestrengt versuchte sie, ihre Atmung zu verlangsamen, schloss die Augen und massierte ihr Gesicht mit den Fingerspitzen; sie begann über den Augenlidern und wanderte dann weiter zu den Schläfen. Es waren sanfte Kreiselbewegungen, bei denen Maggie bewusst nicht auf die Narbe achtete.
Das ist bloß vorübergehend, sagte sie sich. Nach einem Schuss in den Kopf durfte man wohl nicht verlangen, gleich wieder auf der Höhe zu sein.
Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren. Leider war ihr einziger Gedanke, wie wütend Feuer aussah, jedes Feuer, immer. Bei den Flammen kamen Maggie die Bilder aus dem Katechismus ihrer Schulzeit in den Sinn: farbgewaltige Darstellungen der Höllenpforten, durch die Mörder und Vergewaltiger dereinst geschickt werden soll ten. Wo die Bösen bestraft wurden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass geliebte Menschen dort hineinliefen und nie wieder herauskamen.
Unweigerlich dachte sie an ihren Vater, in dessen Fußstapfen Patrick nun getreten war. Wie konnten sich die beiden mitten in tosende Feuer stürzen, während Maggies Körper mit jeder Faser schrie, sie solle umkehren und fliehen?
Ihr war klar, dass es die Angst war, einen wichtigen Menschen zu verlieren, welche ihre jüngsten Albträume ausgelöst hatte. Diese Furcht lag ihr schwer im Magen und störte ihre ohnehin kurzen Schlafphasen. Und den Grund hatte Maggie längst selbst diagnostiziert. Die Albträume in letzter Zeit wurden durch Patricks Einzug hervorgerufen, vielmehr durch seinen neuen Job, bei dem er sich in dieselbe Gefahr begab, in der ihr Vater umgekommen war.
Heute Nacht war Maggie für einen flüchtigen Moment, als Patrick vor dem Kühlschrank gestanden und zu ihr aufgesehen hatte – unmittelbar nachdem sie ihm fast den Schädel einschlug –, erschrocken darüber gewesen, wie sehr er ihrem Vater ähnelte. Thomas O’Dell war nur sechs Jahre älter gewesen als Patrick jetzt, als er in jenes brennende Gebäude gerannt war. Sein Aussehen hatte sich auf immer in Maggies damals erst zwölfjähriges Gedächtnis eingebrannt.
Das konnte jeder Erstsemesterstudent der Psychologie erklären.
Mit Albträumen an sich war Maggie seit Langem vertraut. Ihretwegen konnte sie nicht schlafen. Andererseits dürfte friedlicher Acht-Stunden-Schlaf in ihrem Beruf so oder so eher die Ausnahme sein. Sie verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit der Jagd auf Mörder, und um die zu fangen, musste sie sich hin und wieder in ihre Köpfe hin einversetzen.
Vor vielen Jahren hatte ihr Mentor, Director Kyle Cunningham, ihr an seinem Beispiel demonstriert, wie man damit umging. Er war ein Meister des Segmentierens, unterteilte Mörder und Opfer in unterschiedliche Gruppen, die er in verschiedenen Teilen seines Gehirns abspeicherte. Auf diese Weise konnte Cunningham sowohl beide Gruppen als auch die Emotionen und Erinnerungen, die er mit ihnen verknüpfte, sauber trennen.
Sein Leben unterteilte er ebenfalls in klar voneinander abgegrenzte Segmente – und das so meisterhaft, dass Maggie erst nach seinem Tod begriff, wie wenig sie über sein Privatleben wusste. Zehn Jahre hatte sie mit ihm zusammengearbeitet, ihn bewundert und geachtet, und dann ging ihr auf einmal auf, dass sie keine Ahnung hatte, ob er und seine Frau Kinder, ein Haustier oder einen Lieblingsferienort hatten. Nun war er fort, und sie konnte ihn nicht mehr fragen, was sie tun sollte, wenn einige ihrer sorgfältig verschlossenen Segmente ein Leck bekamen. Was sollte sie anstellen, damit sie nicht in ihr Unterbewusstsein tröpfelten? Das ganze letzte Jahr hatte sie versucht, sie aus ihrem Schlaf zu verbannen. Dann aber war Patrick zu ihr gezogen, und die Brandstiftungen hatten angefangen …
Sie atmete tief ein und zwang sich, das sichere Nest ihres Wagens zu verlassen. Nachdem sie den Gürtel ihrer Jacke fest zugezurrt hatte, steckte sie ihre Hände tief in die Taschen, um sie warm zu halten. Bei dem letzten Feuer war ihr schrecklich klamm und kalt
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