Erloschen
angerufen, umso dringender, weil sie keinen Anruf von ihm erwarten würde.
Maggie hielt inne und drehte sich langsam um die eigene Achse, als würde sie erst jetzt ihre Umgebung überhaupt registrieren.
»Glaubst du, dass er hier auch Gloria Dobson getö tet hat?«
Nachdem sich seine Atmung und sein Herzschlag wieder normalisiert hatten, lauschte Tully konzentriert. Vom Verkehr auf der Interstate war hier nichts mehr zu hören. Genauso wenig wie vom Schlagen der Autotüren, dem Motorenlärm oder den Stimmen vom Rast platz. Ein Windstoß raschelte durch die Bäume über ihnen. Die Vögel krächzten und krähten sich gegenseitig an. Falls der Killer den Zeitpunkt so geschickt abgepasst hatte, dass niemand auf dem Rastplatz gewesen war, hatte hier draußen keiner die Schreie der Opfer gehört.
»Das müsste Ganza herausfinden können«, antwortete Tully.
Keine leichte Aufgabe, dachte er, als er sich umsah. Tatorte unter freiem Himmel waren sowieso immer eine Herausforderung, und dieser hier war mehrere Tage alt und von Vögeln und anderen Tieren verunreinigt. Wo Blutlachen versickert waren, musste das Erdreich aufgegraben werden. Laub und kleine Zweige, an denen Spuren hafteten, konnte der Wind längst weit weggetrieben haben. Dasselbe galt für Fasern oder Haar.
Tully erinnerte sich an Gloria Dobsons Gesicht in jener dunklen Gasse – oder vielmehr an das, was von ihm noch übrig gewesen war. Falls Gewebeteile von ihr hier an der Baumrinde oder an den Grashalmen klebten, würden Keith Ganza und seine Techniker sie finden.
»Ich glaube nicht, dass er sie hier umgebracht hat«, sagte Maggie. »Dann hätte er sie zu weit schleppen müssen. Er hat sie wahrscheinlich an eine Stelle gebracht, die er mit einem Wagen gut erreichen konnte.«
»Vielleicht hat sie es nicht so weit in den Wald geschafft.«
Er versuchte sich eine Verfolgungsjagd vorzustellen und schaute sich nach abgebrochenen Zweigen, Rutsch- und Schleifspuren auf dem Boden um. In jener Nacht hatte es in D.C. geregnet, nicht stark, aber hin reichend, um Beweise zu vernichten. Hatte es hier auch geregnet?
Er blickte zu Maggie, die offensichtlich dasselbe dachte. Sie suchte mit ihren Augen den Weg ab, auf dem sie gekommen waren.
»Warum nimmt er es mit zwei Leuten auf? Und wie war das überhaupt möglich? Hatte er es geplant, oder war es ein spontaner Überfall, der auf schreckliche Weise aus dem Ruder lief?«
»So oder so, wir haben es mit einem richtig kranken Schwein zu tun.«
Maggie sah zu den Strängen von Eingeweiden hinüber, die von den Vögeln herausgerissen und angepickt worden waren. Für Tullys Geschmack war ihnen immer noch zu deutlich anzusehen, dass es sich um menschliches Gedärm handelte. Der Dickdarm hatte nach wie vor seine dunkelrote Farbe, der Dünndarm war gräulich violett.
»Ein Dünndarm ist um die sechs Meter lang«, sagte Maggie, und er wusste, dass sie nicht bloß mit ihrer Allgemeinbildung prahlte. Dann fügte sie hinzu, was Tully dachte: »Er hat das schon früher gemacht.«
Tully ging drei Schritte näher und gab ihr recht. Die Darmstränge waren nicht willkürlich herausgerissen und herumgeschleudert worden, sondern auf den unteren Ästen und Zweigen drapiert wie Weihnachtslichterketten. Das erforderte Zeit, Mühe und Fachwissen. Es war nicht das chaotische Werk eines Irren.
Maggies Handy klingelte. Sie blickte aufs Display, dann hob sie ab. »Du glaubst nicht, was wir gefunden haben.«
Der Anrufer unterbrach sie jedoch gleich, denn sie hörte zu, blickte sich dabei weiter um und sah schließlich Tully an.
Nach einigen Sekunden flüsterte sie: »Ich bin so schnell wie möglich da.«
68
Cornell hatte sie überredet, ihn eine weitere Nacht in Haft zu behalten. Er beteuerte, dass er wichtige Informationen hätte, die er einzig Agent Tully geben wollte. Und Agent Tully war, wie man ihm sagte, nicht in der Stadt, so dass er nicht vor Montagmorgen mit ihm reden konnte.
Was für ein Jammer. Was für ein glücklicher Jammer.
Die hauchdünne Pritsche war weicher als das Straßenpflaster, und er hatte eine Decke, die er überhaupt nicht brauchte, weil es in der Zelle so warm war. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass dies hier für ihn Erholung pur war, quasi Urlaub. Na ja, nicht ganz wie Urlaub, denn der Whiskey fehlte. Und die Kopfschmerzen waren kein Spaß. Aber das Essen war warm, und er durfte ein paar Stunden in den Fernsehraum.
Es war lange her, seit er zuletzt ferngesehen hatte, deshalb erkannte er
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