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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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steckte sie das Buch in die Jackentasche und stieg aus. Es war dunkel geworden. Sie hatte keine Angst, entdeckt zu werden, und sie war sicher, dass niemand ihr folgte. Die Ebenen und Rolltreppen des Bahnhofs wimmelten von Frauen mit Kopftüchern, Schleiern, Schals, Sonnenbrillen. Der Verkehr vor den Ausgängen hatte noch nicht abgenommen, nur der Staub im Wind dämpfte die Lichter. Sie konnte zu Fuß gehen, auf den schmalen Bürgersteigen, wo sie es sofort bemerkte, wenn jemand zu lange hinter ihr blieb.
    Es war derselbe Döner, in dem sie vor ein paar Tagen mit Max gefrühstückt hatte. Über dem Eingang stand noch immer in grünen Buchstaben auf rotem Grund Dürüm Salat Iskender Pommes Burger Pizza Pasta Hähnchen , und neben dem großen, schmutzigen Schaufenster prangten auch noch immer die abgasgeschwärzten Farbfotos von krossen Grillhähnchen, goldgelben Pommes frites, überquellenden Dönertüten und bunten Salaten. Die Reihe schlichter Holztische im Inneren hatte sich nicht verändert, genauso wenig der übergroße Kühlschrank mit Getränkedosen. Die laute türkische Musik, die von den rot gestrichenen Wänden widerhallte, klang monoton wie immer. Der Dönerspieß drehte sich langsam und in alle Ewigkeit vor den glühenden Grillstäben, und in der öligen Hitze schwitzte nach wie vor Murat, der freundlichste und liebenswürdigste aller Dönerwirte.
    Aber jetzt, als sie in den kleinen, nüchternen Raum trat, erschien
ihr auch das alles auf einmal verändert, ein weiterer Platz, den sie mit neuen Augen sah, noch eine trügerische Kulisse aus einer Vergangenheit, die es nicht mehr gab.
    Â» Salaam Aleikem!« , sagte Murat laut, als Ella den fast leeren Raum betrat. Sie ging auf den von Fettdunst beschlagenen Glastresen zu, hob kurz die Sonnenbrille, zog den Schal herunter und sagte leise: » Aleikem Salaam , Murat. Wenn ich wieder gehen soll, tue ich das. Aber bitte lass mir einen Vorsprung, bevor du die Polizei rufst.«
    Â»Frau Doktor!«, rief Murat, dämpfte aber sofort die Stimme und streckte ihr beide Hände entgegen. »Die sollen mir abgehackt werden, und die Zunge soll mir herausgerissen werden, wenn in meinem Haus die Gebote der Gastfreundschaft nicht mehr gelten. Ich sehe Sie nicht kommen, ich sehe Sie nicht an meinem Tisch sitzen, und wenn Polizisten hereinkommen, sehe ich Sie nicht durch den Hinterausgang gehen, gleich neben der Toilette.«
    Â»Danke, Murat. Einen Tee, bitte!«
    Annika saß an einem Tisch ganz hinten im Raum und las eine Zeitung, die aufgeschlagen vor ihr lag. Sie trug dieselbe Kleidung wie am Morgen auf der Beerdigung. Sie war blass und so dünn, dass die bunte Strickjacke an ihr herabhing wie von den Schultern einer Kleiderpuppe. Bei dem schonungslosen Deckenlicht konnte Ella sehen, dass ihre Schönheit noch immer da war, nur anders, unter lauter feinen Falten auf der durchscheinenden Haut wie in zerknittertes Pergament geschlagen. Alles an ihr schien jetzt schärfer und kantiger, und ihre Lippen, scharlachrot geschminkt, hatten etwas von einer kühlen, horizontal brennenden Flamme.
    Als Ella an den Tisch trat, hob sie den Kopf von der Zeitung und blickte sie an mit ihren klaren, tiefseeblauen Augen, die bis auf den Meeresgrund der Seele schauen konnten. Plötzlich gab es die ganzen letzten Jahre nicht mehr; es war, als hätten sie sich
eben erst gestern zum letzten Mal gesehen, noch im Praktikum. Ella musste grinsen, kein Lächeln, nein, ein breites Grinsen, das von Annika erwidert wurde.
    Â»Gehst du immer noch ohne Höschen?«, fragte Ella.
    Â»Inzwischen muss ich das leider!« Annika stand auf, schnell, wie ein Springteufel, und streckte beide Arme aus. Sie hielten sich fest. Noch nie hatte Ella so viel Trost in so kurzer Zeit verspürt.
    Â»Ich wusste gar nicht, dass du ein Haus in der Normandie hattest«, sagte Annika.
    Â»Ich? Klar, und eins in Acapulco. Woher weißt du das?«
    Annika ließ einen Arm auf Ellas Schulter liegen, mit der anderen Hand deutete sie auf den Artikel, der vor ihr lag. »Hast du heute noch keine Zeitung gelesen? Die B. Z. von Freitag? Du bist immer noch das Thema Nummer eins!«
    Unter einem großen Foto – so weit Ella wusste, das einzige, das sie jemals mit einem beinahe verführerischen Gesichtsausdruck und sinnlich aufgeworfenen Lippen gezeigt hatte – prangte in großen roten Buchstaben die

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