Erlosung
der Schlüssel zu allem, was Fräulein Schneider getan hat. Lesen Sie die angestrichenen Passagen vorn in dem Buch, wenn Sie verstehen wollen, warum sie sich über die Aufklärung des Mordes an ihren UrgroÃeltern hinaus ihrem Studium mit solcher Leidenschaft gewidmet hat. Seit ihre GroÃmutter ihr daraus vorgelesen hat, hat sie den Inhalt nie vergessen â die Auswirkungen der groÃen Depression auf die Menschen und die Rolle der Banken dabei. Vielleicht kann man sagen, weil sie von dem Wunsch getrieben wurde, den Schuldigen an einem alten Verbrechen aufzuspüren, wurde sie an den Tatort eines neuen geführt, bei dem sie selbst das Opfer war. Letzten Endes ist das also wohl auch einer der Gründe, warum sie nicht mehr am Leben ist.«
»Wollen Sie damit sagen, Mado und all die anderen wurden wegen eines achtzig Jahre zurückliegenden Verbrechens getötet? «, fragte Dany.
»Ich will damit sagen: Lesen Sie die angestrichenen Passagen. Es ist heute eine andere Zeit, aber jede Zeit hat ihre eigenen Anlässe, Menschen zu töten, und weder Menschen noch Banken sind seit damals besser geworden.«
29
»Kannst du mir sagen, was in dich gefahren ist?«, fragte Dany mit der ungeduldigen, zornigen Stimme, die sie an ihm nicht mochte. »Warum hast du das Gespräch auf einmal abgebrochen? Nur wegen deiner Freundin?«
»Nicht nur wegen Anni.«
Sie standen über der Spree auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofs Jannowitzbrücke, und hier war der Wind noch stärker als auf dem Boot.
»Jetzt sind wir so klug wie vorher«, sagte Dany. »Wir wissen noch immer nicht, wovon Mado gesprochen hat. Er hat uns nichts gesagt, nichts gezeigt und nichts gegeben auÃer diesem Kuvert da. Hast du nicht gemerkt, dass er reden wollte ? Nur ein paar Minuten noch â «
»Wenn er heute reden wollte, will er es morgen noch mehr«, sagte Ella. »Hast du nicht gemerkt, dass er Angst hatte?«
»Er sah nicht so aus.«
»Er hat nur mehr Ãbung darin, sie zu verbergen. Er glaubt noch nicht wirklich, dass er auch in Gefahr ist. Er hat die Aufnahmen nicht gesehen. Jedenfalls hätte er uns das, was wir wissen wollen, heute noch nicht gesagt. Vielleicht weià er es selbst nicht. Oder er denkt, wenn er es für sich behält, schützt es ihn.«
Jenseits des Flusses war die ganze Stadt jetzt kupferrot, wo die untergehende Sonne auf den Dächern und in den Fenstern brannte, und da, wo sie nicht mehr hinreichte, wurde alles langsam schwarz: das Wasser, die Hinterhöfe, die Fassaden. Erleuchtete
S-Bahnzüge ratterten über die Hochgleise, näherten sich aus dem lachsfarbenen Himmel. In den StraÃen unter den Stahlkonstruktionen trieben die Lichter der Autos hin und her wie helle Planktonschwärme. Die Lastkähne auf dem Fluss setzten ihre Positionslampen, und überall zuckten bunte Neonsilben im Zwielicht.
Ella überlegte, ob sie Dany von dem Angebot des türkischen Polizisten erzählen sollte. Sie war aufgeregt; wenn er ihr glaubte, wenn sie ihn überzeugen konnte, dann brauchte sie Forell vielleicht nicht mehr. Vorbei die Flucht, die Jagd, die Angst. Und um die Mörder und die Opfer und die Verschwörung, wenn es wirklich eine gab, um all das kümmerte sich wieder die Polizei.» Vielleicht, vielleicht, ich hasse dieses Wort«, sagte Dany endlich, aber seine Stimme war wieder ruhig geworden, und er versuchte, nicht zu auffällig auf die Bahnsteiguhr zu schauen. »Triffst du dich jetzt mit deiner Freundin?«
»Ja.«
Er blickte einer einfahrenden S-Bahn entgegen. »Gut, ich muss mich nämlich langsam mal bei meiner Redaktion melden und einen Zwischenbericht erstatten. Wenn ich nichts mehr von dir höre, treffen wir uns im Hotel. Ach, was ist das eigentlich für ein Buch?«
Ella öffnete die Jiffy-Tasche, die der Professor ihr gegeben hatte und holte ein Taschenbuch heraus. »Ein Roman«, sagte sie überrascht. » Früchte des Zorns .«
Sie warf die Jiffy-Tasche in einen Abfalleimer und sah zu, wie Dany in die eine S-Bahn stieg, während sie eine andere nahm, das Buch unterm Arm. Er winkte ihr, aber er lächelte nicht dabei. Der Zug war so voll, dass sie stehen musste. Sie las die Inhaltsangabe auf dem abgegriffenen Rücken des Romans. Er handelte von Landpächter, Männern, Frauen und Kindern, die im Amerika der DreiÃigerjahre von den Besitzern vertrieben wurden und sich auf den
Weitere Kostenlose Bücher