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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Alleswas-du-kannst-kann-ich-viel-besser-Annie! Und als es dann passiert ist, schon knapp fünf Monate später, wollte ich erst recht nicht, dass du es erfährst. Ich habe sogar Max schwören lassen, dass er dir nichts davon erzählt. Tja, scheint, als hätte er Wort gehalten.«
    Ella erinnerte sich an die letzten Telefonate, die ausweichenden Antworten, die vagen Versprechen, bis keiner mehr den anderen angerufen hatte, nur vorübergehend natürlich. Aber dann war das Schweigen zum Dauerzustand geworden. »Was hat er mit dir gemacht?«, fragte sie.
    Â»Mich die Treppe runtergeworfen«, sagte Annika. »An den Haaren durch die Küche geschleift. Meinen Kopf gegen die Wand gehämmert. Die reine Poesie! Bis er mich nicht mal mehr wo gegenschleudern oder irgendwo runterwerfen musste, damit ich hingefallen bin.«
    Ella sagte nichts, weil sie auf einmal begriff, und weil es da nichts mehr zu sagen gab.
    Â»Genau«, meinte Annika. »Fallsucht. Symptomatische Epilepsie als Folge eines Schädelhirntraumas. Morbus sacer. Die heilige Krankheit. Kommt schon in der Bibel vor, im Neuen Testament – Jesus heilt einen Fallsüchtigen. Julius Cäsar. Napoleon. Dostojewskis Idiot. Mein Hund Ronin. Aber deswegen muss ich jetzt Höschen tragen. Kommt einfach nicht so gut, wenn ich mich bei einem Anfall vollpisse und keins anhabe. Die
ganze Elektrizität im Gehirn, was man damit machen könnte, und jetzt knallen alle Nase lang die Sicherungen raus und das Licht geht aus. Status epilepticus, Kurzschluss, Nacht in allen Zellen. Vor allem, wenn dir etwas nahegeht. Zu viele emotionale Reize, und peng! ein Blitz, und du siehst alles in schönste Farben getaucht, bevor du der Länge nach hinknallst und dir irgendwann endgültig den Schädel einschlägst, sogar ohne Mithilfe eines Mannes, komplett mit Schmatzen, Sabbern, wilden Zuckungen, Schaum vor dem Mund und einem Schrei hier und da als Garnierung. Unheilbar, sagen die Ärzte, jedenfalls meine Form!«
    Ella schwieg noch immer. Dann sagte sie: »Scheiße.«
    Â»Und du dachtest, du hättest Probleme«, meinte Annika mit einem Lachen, gerade als Murat ihr den Bulgursalat brachte.
    Â»Kannst du denn dann überhaupt noch als Therapeutin arbeiten? «, fragte Ella.
    Â»Ja, mit Pflanzen«, sagte Annika. »Die stört es nicht so, wenn ich mitten in einer Sitzung mal eben auf sie drauffalle. Ich nehme natürlich Tabletten – Neuroleptika, Antikonvulsiva, die ganze Palette.«
    Â»Du bist Gärtnerin geworden? Du hast keine Patienten mehr?«
    Â»Ich darf keine mehr haben, die Zulassung wurde widerrufen. Natürlich halte ich mich nicht daran, die Leute wollen schließlich weiter zu mir kommen, um mit mir zu reden. Ich nenne mich jetzt aber anders – Soul Stylist . Mit der Gärtnerei beschäftige ich mich nur zur Tarnung, in einem kleinen Gewächshaus, falls die Psychiatrische Gesellschaft ihre Häscher ausschwärmen lässt. Double income, no kids oder wie das hieß. Der Salat schmeckt übrigens gut, hast du heute schon was gegessen? «
    Â»Ich habe keinen Hunger.«
    Â»Warum schaust du mir dann beim Essen zu wie ein bettelnder
Hund?« Sie machte Murat auf sich aufmerksam und rief: »Noch mal so einen Salat, Murat Pascha! Für meine Freundin!«
    Ella sah sich um. Inzwischen war es voller geworden in dem kleinen Raum: Mädchen in High Heels, verlockend geschminkt, in kurzen Röcken, aber mit Kopftuch; ältere Männer mit grauen Haaren und grauen Schnurrbärten, die Kaffee aus kleinen Tassen tranken; ihre Frauen, beleibt, ganz in Schwarz, manche verschleiert, mit klobigen Schuhen und geblümten Röcken.
    Â»Aber im Ernst«, fuhr Annika fort, »ohne meine Patienten wäre ich in der ersten Zeit verloren gewesen. Ich habe vorher immer gedacht, die brauchen mich , aber da ist mir plötzlich klar geworden, dass ich sie mindestens genauso brauche. Ich war jetzt eine von ihnen, eine Gezeichnete , und sie gaben mir den Halt, den ich ihnen vielleicht gegeben hatte. Ich merkte auf einmal, wie nah sie mir standen, all diese Menschen, deren Seele eine Verletzung zugefügt worden war, ohne dass sie je ganz in Worte fassen können, wann oder von wem oder sogar was für eine genau.
    Bis zu dem Moment, als ich meinen ersten Anfall hatte, war ich innerlich immer noch ein wenig belustigt – manchmal auch irritiert –, wenn wieder einer so einen

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