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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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drückte auf die Lichthupe und versuchte auszuweichen. Der Sprinter geriet aus der Spur, aber Max steuerte gegen, und der Skoda bremste, und jetzt prallte der Sprinter mit dem rechten Vorderreifen an den Bordstein, schrammte daran entlang und wurde auf die Fahrbahn zurückgeschleudert. Max kuppelte, schaltete und brachte ihn wieder auf Kurs. Mit kreischenden Reifen schoß der Wagen in eine Biegung, auch diesmal behielt Max die Kontrolle über das Fahrzeug und jagte es dicht an der nächsten Kolonne parkender Autos entlang. Ella beugte sich vor, über das Armaturenbrett, als könnte sie den Sprinter so noch schneller machen. Sie starrte auf das Navidisplay, das ihr
die ganze Route anzeigte, der Wagen ein roter Punkt, der sich ruckend vorwärtsbewegte, noch ein Stück die Wilhelmstraße entlang, über den Landwehrkanal, dann weiter den Mehringdamm hoch, bis rechts die Yorckstraße kam und gleich wieder links die Möckernstraße.
    Â»Vier Minuten«, sagte Max. Er war nie aufgeregt, nicht äußerlich. Gelassen saß er hinter dem Lenkrad in seinem hellblauen, kurzärmeligen Hemd, kaute Kaugummi und blickte starr nach vorn, ganz selten zur Seite, höchstens mal kurz in den Außenspiegel, außer wenn er in eine Kreuzung einfuhr. Seine Bewegungen waren sparsam, er lenkte, kuppelte, schaltete, gab Gas oder bremste so beiläufig, als säßen sie in einem Autoscooter. Seine Beine in der feuerwehrblauen Hose mit den reflektierenden Streifen schienen Impulsen zu gehorchen, die vom Wagen ausgingen, nicht von ihm. Ella war immer froh, wenn er die Schicht mit ihr teilte. Er war ein guter Rettungsassistent, und er war ein guter Freund, und zwischendurch war er eine Zeit lang ein guter Liebhaber gewesen. Außerdem stand ihm Blau besser als ihr, besonders im Sommer.
    Â»Warum ruft jemand anonym die Rettung an?«, fragte Ella. »Warum meldet ein Mann eine sterbende Frau, ohne die Hausnummer zu nennen, wo wir die Frau finden können? Warum sagt er, oberste Wohnung, und nicht, in welchem Haus? Was bedeutet ›Sie stirbt‹? Das kann alles bedeuten. Und wenn er nicht bei ihr ist, woher weiß er dann, dass die Frau stirbt?«
    Â»Vielleicht hat er sie durchs Fenster gesehen«, sagte Max. Sein Gesicht leuchtete auf und erlosch im Widerschein der Peitschenlampen, leuchtete und erlosch, ein Flackern in Zeitlupe.
    Ella schwieg, versuchte sich die Situation vorzustellen, die sie vorfinden könnten. Dann fragte sie: »Hast du den Koffer aufgefüllt? «
    Eigentlich eine überflüssige Frage. Das war das Erste, was sie taten, wenn sie einen Patienten abgeliefert hatten: Sie ersetzten
die verbrauchten Medikamente, die benutzten Spritzen und geleerten Ampullen. Sie tauschten halb leere Sauerstoffflaschen gegen frische aus und überprüften die Batterien des Monitor-Defibrilator-Systems.
    Â»Vielleicht habe ich den Wodka vergessen«, sagte Max. »Wir haben aber Wein und Bier, Eis ist in der Kühlbox. Ich musste den Defi und den Sauerstoff rauswerfen, damit noch etwas kaltes Huhn reinging.«
    Â»Jetzt weiß ich wieder, warum ich dich mal geliebt habe.«
    Â»Warum hast du aufgehört, mich zu lieben?«
    Sie antwortete nicht, sah ihn nur an und dachte, warum hört man auf, jemanden zu lieben?
    Rechts huschte eine beleuchtete Kebabbude vorbei, im Fenster drehte sich ein Dönerspieß. »Hast du Hunger?«, fragte Max. »Ich habe Hunger.« Nach einer Minute ein Imbiss – Halbes Hähnchen, Fritten und Cola 2,60 Euro, unschlagbar – und ein 24-Stunden-Kiosk. »Ich komme um vor Hunger!« Max raste auf die Kreuzung zu, ohne vom Gas zu gehen, trotz roter Ampel. »Achtung, rechts!«, rief Ella, denn auf der Anhalter Straße näherte sich ein Taxi. Der Wagen fuhr schnell, bremste aber in letzter Sekunde, denn Max bremste nicht. Eine schwarz verschleierte Frau mit einem Fahrrad voller Tüten blieb gerade noch rechtzeitig am Bordstein stehen, und Max sagte: »Was hat die denn jetzt noch hier zu suchen?!«, und Ella rief: »Paß auf!«, denn der Wagen geriet wieder mit zwei Rädern auf den Bürgersteig, rammte beinahe eine Litfaßsäule, aber nur beinahe, und jetzt war die Straße frei, fast bis zur S-Bahn-Überführung. »Fünf Minuten«, verkündete Max und sah Ella zum ersten Mal an, seit sie losgefahren waren. »Wo wir gerade von Liebe reden: Ich bin Silvan begegnet, auf dem Gang vor der

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