Erlosung
ihrem Gehirn gleichkam. Wenn sie sich aufregte oder traurig war, oder wenn etwas geschah, dass sie aus der Kurve warf wie eine zu schnell auf ihren Schienen dahinrasende Spielzeuglokomotive, dann konnte
sie die Kabel hinter ihrer Stirn fast durchschmoren fühlen, bevor alles in das blendende Licht sprühender Funken getaucht wurde. Manchmal hörte sie sich schreien; manchmal spürte sie den Schmerz, wenn sie sich auf die Zunge biss; manchmal war es, als hätte sie einen schwach geladenen elektrischen Zaun angefasst; manchmal roch sie heiÃen Feuerstein; manchmal veränderten sich die Farben, wurden heller oder dunkler oder begannen zu flimmern; manchmal wurde das Licht greller oder schwächer; manchmal veränderten sich die Dimensionen, und Gegenstände rückten näher heran oder weiter weg; manchmal bekam sie Angst, die zur Panik wurde, so schnell, dass ihr keine Zeit mehr blieb, sich vorzubereiten; manchmal fand sie sich dann hilflos auf dem Boden wieder, und wenn sie die Augen wieder aufschlug, kam sie sich vor, als erwachte sie aus einer Narkose.
Oft jedoch war die Spannung, die sich in ihr aufgebaut hatte, so drückend, dass sie den Anfall geradezu als Erleichterung empfand. Und wenn sie dann merkte, was geschah, wenn sie die Anzeichen las und vorbereitet war, gab es Sekunden, in denen sie leuchtete und alles sah und alles verstand. In denen alles einem Wunder glich, dem sie für diese wenigen Sekunden gewachsen war wie ein Engel dem Licht Gottes. Kein Zorn mehr. Keine Wut. Keine hilflose Raserei. Kein Schmerz. Keine Grenzen, kein Raum, keine Zeit, nur Erfüllung und Ekstase in dem Zucken des Gehirns, das sich entlud. Manchmal verzichtete sie darauf, ihre Medikamente zu nehmen, damit die Anfälle schneller kamen. Wie eine Süchtige.
Sie wusste, dass sie gefährdet war; Schmerzen bedeuteten ihr etwas. Sie verstand die Qualen ihrer Patienten besser, seit sie aus dem Krankenhaus gekommen war, und sie erkannte Zusammenhänge, Strukturen oder Gefahren, die andere nicht sahen. Die Ahnung von Gewalt allein schon versetzte sie in einen Zustand, in dem ihre Nerven zu Antennen wurden, alle Zellen zu Empfängern. Als sie das Journal von Matthias Steinberg las, das
ihr Bambi vorsorglich zusammen mit dem Memory Stick zur Aufbewahrung übergeben hatte, sah sie die Bilder zwischen den Zeilen, und bei dem Anblick stockte ihr der Atem.
Sie saà auf einem Hocker an einem Stehtisch in einem 24-Stunden-Kiosk und las, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Bambi hatte sie in der Nacht angerufen, als sie bei der Chinesischen Botschaft angekommen war, aber danach nicht mehr. Seitdem waren vier Stunden vergangen. Annika hatte ihren Rucksack gepackt, ihr Hotel verlassen und war durch die StraÃen gegangen, bis sie den Kiosk entdeckt hatte.
Der Kiosk war leer, nur ein junger Mann in einem schwarzen Trainingsanzug an der Kasse und ein älterer Mann auf der anderen Seite des Tresens, mit dem er sich unterhielt, während ein Sänger in einem unsichtbaren Radio traurige arabische Lieder sang. Hier suchte bestimmt niemand nach ihr, selbst wenn sie auf die Idee kamen, dass Ella vor ihrem Treffen mit Aziz zu wenig Zeit gehabt hatte, um den Stick in einem SchlieÃfach zu deponieren oder woanders zu verstecken. Und dass nur eine Person infrage kam, der sie vertraute und die bis vor Kurzem mit ihr zusammen gewesen war.
Annika hatte einen Kaffee aus dem Automaten gezogen â gefährlich, wegen des Koffeins, aber sie durfte nicht einschlafen â und ein belegtes Sandwich, weil sie beim Lesen immer Hunger bekam. Sie saà an dem runden Stehtisch ganz hinten zwischen ein paar Regalen mit Wein-, Schnaps-, Cola- und Bierflaschen, halb verborgen hinter Drehständern mit Zeitungen, und da las sie beim schlechten Licht einer unruhig flackernden Neonröhre an der Decke des kleinen Raums die Aufzeichnungen, die Matthias Steinberg nach seiner Flucht in seinem Journal niedergeschrieben hatte.
Sie sah das kleine Mädchen, das sich von seinem Hauslehrer losgerissen hatte. Sie sah es auf dem vergilbten Papier, und sie sah, wie es das Papier verlieà und durch die offen stehende Tür
in die dunkle Diele dahinter lief. Sie spürte die Angst, die in Annémone aufstieg und sich ihr auf die Brust legte.
Es war inzwischen so dunkel geworden, dass man kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Annie rief »Ãmilie« und »François«, und danach hörte ich nichts mehr. Der
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