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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Anblick der toten Köchin und des ermordeten Hausdieners musste ihr die Sprache verschlagen haben, denn sie rief weder nach ihren Brüdern noch nach ihren Eltern. Als ahnte sie schon, dass das Grauenhafte auch diese nicht verschont hatte, wollte aber den Moment des Begreifens nicht voreilig herbeiführen, ging sie schweigend weiter, mit jener Tapferkeit, jener unbedingten Weigerung, vor dem Bösen zurückzuweichen, wie sie nur Kindern zu eigen ist.
    Und so ging die kleine Annie weiter, tiefer in das dunkle Haus hinein, und dort fand sie ihren Bruder Sébastien. Gott sei Dank reichte das Licht nicht mehr aus, um sie die Wunden genau erkennen zu lassen, nicht einmal das Blut war mehr rot. Sie bückte sich, berührte Sébastien an der Hand, zupfte an seinem Ohr, als spielte er ihr nur einen seiner Streiche wie sonst so oft. Inzwischen hatte ich sie eingeholt und wollte sie wegführen, doch einmal mehr schüttelte sie mich ab und ging weiter, und auch diesmal wollte ich ihr folgen, um ihr wenigstens das Schlimmste zu ersparen.
    Da erklangen Stimmen vor dem Haus, leise noch, in einiger Entfernung, aber doch auf dem Weg, der zum Anwesen führte. Was, wenn man mich hier fand, das Blut der Toten an meinem Schuhwerk? Ich wollte Annie davon abhalten weiterzugehen, und ich wollte fliehen, und beide Gefühle waren gleich stark, sodass ich einige Herzschläge lang keinem von beiden nachgab.
    Annémone ging weiter, Schritt für Schritt, und beim Lesen war Annika, als ginge sie dicht hinter ihr, als wäre sie bei dem kleinen Mädchen in dem dunklen Haus. Sie fanden auch ihren anderen Bruder, Jean-Marie, reglos auf der Schwelle. Sie konnten
die Wunde in seinem Hals sehen, da, wo der Knorpel an seiner Kehle gewesen war, und sie merkten, wie ihre Beine ganz zitterig wurden, und in ihrem Kopf brannte es. Sie bekamen kaum noch Luft. Annie ging weiter, weil sie nicht stehen bleiben konnte, und auch Annika konnte nicht zurück.
    Bevor sie jedoch über die Schwelle zum Salon schritt, in dem ihre Mutter lag, hörten wir einen Laut aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters . Das Geräusch war so fein wie das Rascheln eines dünnen, trockenen Astes. Ohne nachzudenken, lenkte sie ihre Schritte nun in die Richtung, aus der es an ihre Ohren gedrungen war. So fand sie auf dem Boden vor dem offenen Tresor – in den sie nie zuvor schauen durfte – eine schattenhafte Gestalt auf dem Bauch liegend, und der Laut, den sie gehört hatte, wiederholte sich, und in dem Seufzen erkannte sie den Atem ihres Vaters .
    Auf das Lebenszeichen antwortete sie mit einem eigenen: »Papa?«
    Sie starrten auf den Kopf des liegenden Mannes, dessen Gesicht der Tür zugewandt war, und dabei traten sie langsam auf ihn zu. Als sie nah genug war, sah sie, dass seine Lippen sich bewegten und sogar, dass ein rötliches Rinnsal aus seinen Mundwinkeln floss. Sie sah es, weil in diesem Moment der Raum nicht mehr dunkel war, sondern von einer merkwürdigen, flackernden Helligkeit erfüllt, die einem Wetterleuchten glich. Die Möbel, die Bilder an den Wänden, die Teppiche verblassten und verloren sogar ein wenig die Konturen, während die Lippen des Vaters all ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen.
    Langsam, fast bedächtig kniete Annémone neben ihrem sterbenden Vater nieder und strich ihm mit ihrer zarten, kleinen Hand über das graue Haar, das ihm ins Gesicht fiel. »Papa«, flüsterte sie. Er schlug die Augen auf, und einen Herzschlag lang blickten
sie klar und lebendig. Sie legte ihm die Arme um die Schultern und schmiegte sich an ihn, um verstehen zu können, was er ihr zu sagen versuchte, und sie hörte, wie er flüsterte: »La … La – zare … Lazaaaare …«
    Das war das letzte Wort, das Auguste Schneider mit seinem letzten Atemzug auf dieser Erde sprach; das war der Name seines Mörders.
    Natürlich verstand Annémone nicht, was sie gehört hatte. Das Wort klang so ähnlich wie der Name ihres Nachbarn, der ihr immer Süßigkeiten mitbrachte, wenn er zu Besuch kam und dem die Pferde gehörten, auf denen sie manchmal reiten durfte. Aber jeder, dem sie später erzählte, was sie gehört hatte, glaubte, dass ihr Verstand sich verwirrt hätte, ein bisschen wenigstens. Angeblich war Christophe Lazare ja den ganzen Tag über in Colmar bei einem Kunden gewesen, und niemand machte sich die Mühe zu überprüfen, ob dies der Wahrheit entsprach. Wie

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