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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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aufgestöhnt, als ich auf dem Boden hinter dem Dieb die Leiche von Monsieur Auguste entdeckte. Der kräftige, etwas schwerhörige Mann musste von hinten erstochen worden sein, denn das Messer steckte noch bis zum Heft zwischen seinen Schulterblättern. Bei meinem Stöhnen fuhr der Dieb herum und blickte mir geradewegs ins Gesicht.
    Es war tatsächlich ein Hafersack aus grober Jute, den er über den Kopf gezogen hatte, mit zwei unregelmäßigen Löchern, hinter denen seine Augen glänzten. Ein Auge war braun, das andere blau, eine Anomalie, die ich vorher nur bei einem einzigen Menschen gesehen hatte.
    Einige Sekunden verharrten wir so, er halb auf den Knien, ich
zur Hälfte hinter dem Türrahmen verborgen. In diesen endlosen Sekunden erkannten wir einander, und ich sah mein Schicksal in seinen Augen, denn ich war nur ein kleiner deutscher Lehrer und er war ein weit über die Grenzen des Landstrichs hinaus angesehener Mann. Wer wird es mir verübeln, dass ich, kaum aus meiner Erstarrung erwacht, Fersengeld gab und mich draußen neben der Zufahrt zu dem weit außerhalb des Ortes gelegenen Anwesen im dürren Unterholz verbarg. Erst jetzt entdeckte ich den Rotfuchs, der hinter dem Stall angebunden war – das Lieblingspferd meines Bruders.
    In diesem Moment begriff ich die ganze Infamie, die Satteltaschen, der Hafersack, der Rotfuchs! Hätte mich das Schicksal nicht zufällig an diesem Nachmittag ins Haus der Schneiders geführt, wäre meinem Bruder und mir der Prozess gemacht worden, ohne dass wir je erfahren hätten, wer in Wahrheit für diese grauenhaften Taten verantwortlich war.
    Aber auch so musste ich um mein Leben fürchten, wie sich gleich darauf zeigte. Wenige Minuten später nämlich verließ der Mörder das Haus, schleppte die prall gefüllten Satteltaschen zu dem Rotfuchs, warf sie ihm über und galoppierte vom Hof. Wäre ich bei meiner Flucht dem Weg zur Straße gefolgt, hätte er mich schnell eingeholt und zweifellos ebenso getötet. Kaum war das Trommeln der Hufe zwischen den Bäumen des Waldes verklungen, hörte ich einen anderen Laut, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war eine helle Kinderstimme, die ein heiteres Lied vor sich hin sang.
    Sofort dachte ich an Annémone, die Jüngste, die nicht unter den Toten im Haus gewesen war. Vorsichtig schob ich ein paar kahle Zweige des Gestrüpps, hinter dem ich mich versteckt hatte, beiseite und warf einen Blick in die Richtung, aus der die Stimme an mein Ohr drang. Und tatsächlich, da stapfte die kleine Annie im kupfernen Schein der tief stehenden Novembersonne über die Wiese heran und sang das Lied von der gentille alouette . Wie ich
später in Erfahrung brachte, war sie an diesem Tag bei ihrem Patenonkel in Strasbourg zu Besuch gewesen, der sie am frühen Nachmittag dem Schaffner des Zuges nach Haguenau anvertraut hatte. Unter normalen Umständen wäre sie am Bahnhof von François, dem Diener, mit dem Citroën abgeholt worden, und als sie ihn dort nicht vorgefunden hatte, machte sie sich munter auf den Weg nach Hause, wobei sie die Abkürzung über die Wiese nahm.
    Ich stürzte aus meinem Versteck und stellte mich ihr in den Weg, denn auf keinen Fall wollte ich, dass sie ins Haus ging und ihre Eltern und Geschwister tot in ihrem Blut liegend sah. Doch etwas an meinem Verhalten oder meinem Gesichtsausdruck oder auch an der Stille in dem sonst von fröhlichem Lärm erfüllten Haus muss ihr Angst eingejagt haben, denn sie riss sich los – mit erstaunlicher Kraft, wie ich feststellte – und lief zu der immer noch offenen Tür. Noch heute kann ich ihre kleine Gestalt in dem grünen Mäntelchen vor mir in der dunklen Diele verschwinden sehen, die winzigen hellbraunen Stiefel und den orange und violett gestreiften Schal.
    Wieder können nur wenige Sekunden vergangen sein, ehe ich ihr nachlief, und dennoch erschien es mir wie eine Ewigkeit. Ich hörte sie nach Émilie rufen, dann nach François – erst die Dienstboten, wohlerzogen wie sie war –, aber schon die Namen ihrer Brüder blieben ihr im Halse stecken …
    Im Lauf ihres kurzen neuen Lebens hatte Annika gelernt, auf die kleinen Anzeichen zu achten, mit denen sich ein Anfall vorbereitete. Aber manchmal entgingen ihr die Vorzeichen oder sie blieben ganz aus, und dann traf er sie völlig überraschend, mit einer Heftigkeit, die einer Explosion in

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