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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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viel einfacher war es doch, meinem Bruder und mir das Verbrechen in die Schuhe zu schieben, denn in diesem Moment waren die Stimmen schon sehr nah und ich lief, so schnell ich konnte –
    Die Worte verschwammen vor Annikas Augen, die Buchstaben zerliefen, als wären sie in strömenden Regen geraten. Sie stellte fest, dass ihre Hand, in der sie den Kaffeebecher hielt, heftig zitterte. Der Inhalt spritzte auf die eng beschriebenen Seiten. Das feuchte Papier begann zu schillern wie ein Libellenflügel. Sie sah auf. Der ganze Kiosk schien sich ihr entgegenzuwölben und von ihr wegzuschrumpfen wie ein Blasebalg. Plötzlich nahm sie den Geruch von frisch gespitzten Bleistiften wahr. Die Flaschen in den Regalen wirkten aufgebläht, größer als zuvor, auch die Überschriften der Zeitungen in den Drehständern, als hielte jemand eine Lupe dicht an die Worte. Die bunten Titelbilder und die Farben der Flaschen und Zigarettenschachteln hinter dem Tresen leuchteten wie Neon.

    Die beiden Männer, der Junge in dem Trainingsanzug, und der Alte, starrten zu Annika herüber. Sie zuckte und brachte den ganzen Tisch zum Wackeln. Sie versuchte sich festzuhalten, weil der Raum langsam unter ihr wegkippte; sie wurde leicht, und die Angst, die sie erfüllt hatte, war auf einmal verschwunden. Sie fühlte sich wie vom weißen Gefieder eines Engels umschlossen, und dann wurde ihr schwindlig, und sie schrie, weil es jählings keinen Boden mehr unter ihr gab, nichts mehr, das sie hielt, und sie fiel, und sie spürte noch, wie das Fallen sie ergriff, aber sie spürte nicht mehr, wie sie auf die Fliesen unter ihr schlug und sich dort noch so lange hin und her warf, bis der Stromkreis in ihrem Gehirn zusammenbrach.

37
    Ella erwachte zum ersten Mal, als es noch dunkel war. Sie befand sich auf dem Rücksitz eines großen Wagens mit getönten Scheiben, der mit hoher Geschwindigkeit zu fahren schien. Sie konnte die Männer, die bei ihr waren, nicht erkennen. Ihr Herz raste, und ihr war übel. Als sie sich bewegte, sagte der Mann neben ihr auf dem Rücksitz etwas, das sie nicht verstand. Der Mann auf dem Beifahrersitz drehte sich um und antwortete etwas, das sie auch nicht verstand, weil der Motor die meisten anderen Geräusche übertönte. Sie spürte einen Stich am rechten Unterarm. Sie versuchte zu sehen, was sie gestochen hatte, aber da verlor sie schon wieder die Kraft, sich zu bewegen, und die Augen fielen ihr zu.
    Als sie zum zweiten Mal erwachte, war es heller. Lichtreflexe huschten über ihre Lider, Kreise und Punkte trieben vorbei, leuchtende Farben. Sie hörte Straßenlärm, die Stimmen von Menschen. Im Mund hatte sie einen wattigen, süßlichen Geschmack. Sie öffnete die Augen. Sie lag auf einer dünnen Matratze in einem kahlen Raum mit grauen oder weißen Wänden. Kein Mobiliar, kein Bild, kein Kabel, das sich über den nackten Kachelboden schlängelte. Von der Matratze stieg ein modriger Geruch auf. Es gab eine Tür und ein Fenster, vor dem eine Jalousie mit gekippten Lamellen heruntergelassen war. Blendende Lichtbalken und Zebraschatten lagen über dem ganzen Raum. Die Luft war stickig.

    Wo bin ich? Seit wann bin ich hier? Wer waren die Männer in der Limousine mit den getönten Scheiben?
    Sie war allein. Sie lag auf dem Rücken, und sie konnte ihre Hände und Beine nicht mehr spüren. Sie versuchte, sich aufzurichten, aber sie fiel sofort wieder zurück. Ihre Hände waren mit breitem Isolierband gefesselt, das die Blutzirkulation abschnürte. Ihre Beine waren auf dieselbe Weise knapp oberhalb der Knöchel fixiert. Auch ihr Mund war zugeklebt. Sie war noch immer müde, trotzdem riss sie jetzt die Augen weit auf. Nicht einschlafen; ich darf nicht wieder einschlafen .
    Sie versuchte, den Straßenlärm, der durch das geschlossene Fenster hereindrang, zu sortieren: keine Motoren, weder Autos noch Motorräder, auch keine Räder auf Schienen. Dafür das Scheppern von Mülltonnen, das Schrillen von Fahrradklingeln, Straßenmusikanten, Gitarren und Ziehharmonika. Stimmen, die schnell wechselten; sie schienen von unten zu kommen. Eine Fußgängerzone? Aber in welcher Stadt? Bin ich noch in Berlin? Sie versuchte, Sprachfetzen herauszufiltern, aber sie identifizierte nur einzelne Worte, lauter als die anderen, Arabisch, Englisch, Spanisch. Jemand rief Luc! Luc! Irgendwo lief ein Radio oder Fernsehgerät, auf volle

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