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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Lautstärke gedreht; ein unverständlicher Sprecher, dann Musik, die türkisch oder arabisch klang.
    Warum bin ich hier? Sie merkte, wie ihre Lider wieder schwer wurden. Nicht einschlafen! Was kannst du tun, damit du nicht wieder einschläfst? Sie konnte wütend werden, und als sie das dachte, merkte sie, dass sie es schon war: Sie war allein, auf sich gestellt, kein Dany, keine Annika . Sie war verschleppt worden, sie wurde hier gefangen gehalten – ein guter Grund, um wütend zu sein, aber nur einer von vielen. Sie war Hauptkommissar Aziz in die Falle gegangen und hatte mit ansehen müssen, wie er seinen Kollegen erschossen hatte. Warum hatte er nicht auch sie getötet? War die Tatsache, dass sie noch lebte, ein Lichtblick?

    Sie hatte sich getäuscht, in beiden, und sie fragte sich, ob Hauptkommissar Schröder noch leben könnte, wenn sie weniger naiv gewesen wäre. Sie knirschte mit den Zähnen bei dem Gedanken, dass er vielleicht gestorben war, weil er sie retten wollte; weil er ihr geglaubt hatte, nicht Aziz. Sie sah ihn sterbend auf der Straße liegen. Sie erinnerte sich an Männer, die aus der Chinesischen Botschaft gekommen waren, um seinen Körper wegzutragen. Was haben die Chinesen damit zu tun?
    Sie bewegte die Füße, damit die Blutzirkulation wieder in Gang kam. Sie bewegte die Hände. Sie versuchte den Mund zu öffnen, aber das Isolierband saß zu straff und war über ihren Unterkiefer und um den Nacken geklebt. Es fühlte sich an, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Ihre Zunge schien größer als sonst, geschwollen. Sie presste sie gegen den Gaumen und drückte sie in den Rachen hinein. Auf einmal spürte Ella einen Würgereiz und geriet in Panik. Du darfst dich nicht übergeben, dachte sie; wenn du Erbrochenes in den Mund kriegst, kannst du ersticken.
    Sie drehte den Kopf zur Seite und schluckte mehrmals schnell hintereinander, bis der Brechreiz verschwand, nur der pappige, süßliche Geschmack blieb. Noch einmal versuchte sie mit aller Kraft, den Mund zu öffnen. Nach wenigen Sekunden begannen ihre Halssehnen zu schmerzen, dann glühte der ganze Nacken. Sengende Stiche schossen in den Gaumen und von dort in die Stirn. Sie biss sich auf die Zunge. Ein Kitzeln breitete sich darunter aus, lief in den Rachen, die Kehle, Blut, sie schluckte wieder. Die angespannte Haut unter dem Klebeband brannte jetzt ebenfalls. Der Schmerz hallte hinter den Schläfen und im Hinterkopf nach, ein Echo, das nur langsam verklang, aber nicht ganz.
    Tränen rannen Ella über die Wangen, und sie blinzelte, bis sie wieder klar sah. Sie rollte sich von der Matratze, landete auf dem harten Boden und zog die Beine an, versuchte auf die Knie
zu kommen. Auf der rechten Hüfte liegend, drehte sie sich halb um sich selbst, hoch mit dir, komm schon! , aber sie schaffte es nicht.
    Sie vernahm ein neues Geräusch, das ihren Herzschlag stocken ließ. Es drang von draußen herein, aber nicht durch das Fenster, sondern durch einen Belüftungsschacht. Sie hielt den Atem an, hoffte, dass es sich wiederholte. Sie lag auf der Seite, den Kopf lauschend angehoben, und wünschte, ihr Herz stünde still, nur um besser hören zu können.
    Da, da war es wieder! Sie erinnerte sich an das Geräusch. Sie hatte sich nicht getäuscht, und jäh begriff sie, was es bedeutete: Sie war in Paris. Was sie hörte, war das Abfahrtssignal der Métrozüge, gedämpft und doch unverkennbar.
    Vielleicht solltest du Paris von der Liste deiner Reiseziele streichen.
    Sie ließ den Kopf auf den harten Boden zurückfallen. Sie schrie gegen das Isolierband an, brüllte durch die geschlossenen Lippen, mit zusammengebissenen Zähnen. Sie warf sich herum, scharrte mit den Füßen. Versuchte noch einmal, auf die Beine zu kommen.
    Dann ein anderes Geräusch: ein Schlüssel, der im Türschloss umgedreht wurde. Die Tür ging auf, und eine farbige Frau betrat den Raum. Die Frau war kräftig – breite Schultern, kleine Brüste, schmale Hüften, fast wie ein Mann. Sie trug schwarze Laufschuhe, eine schwarze Jogginghose und ein weißes Feinrippunterhemd. Pulswärmer verdeckten ihre Handgelenke. Das dicke rotbraune Haar war straff nach hinten gekämmt und zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, schien sich aber mit allen Strähnen gegen diese Behandlung zu wehren. Kleine schwarze Muttermale bedeckten ihr Gesicht wie Fliegendreck.

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