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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Knattern der Plastikplanen und, etwas weiter weg, der Partylärm, den Ella bei ihrer Ankunft vor dem Haus gehört hatte. Unwillkürlich sah sie zum Fenster hinüber. Sogar das Klirren von Flaschen und Gläsern hatten die leistungsstarken Mikrofone aufgenommen.
    Unvermittelt fragte eine Männerstimme: »Was ist es?« Die Stimme war leise, fast sanft. »Wo ist es?« Ella spürte, wie sich die Haut auf ihrem Rücken zusammenzog, zwischen den Schulterblättern und dicht unter dem Nacken.
    Â»Ich weiß nicht«, antwortete die Stimme einer Frau. » Je ne – je ne sais pas!«
    Â»Ich spreche kein Französisch«, sagte die Stimme des Mannes. »Was ist es?«

    Â»Was ist was? Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Die Stimme der Frau vibrierte wie eine Saite, die zu reißen drohte.
    Â»Wo ist es?«
    Â»Was meinen Sie denn? Ich weiß es nicht. Je ne sais vraiment pas. «
    Der Schrei zerriss das Pladdern des Regens auf den Planen und das ferne Stampfen der Musik, und er nahm kein Ende. Er nahm kein Ende, weil er gleich danach in einen weiteren Schrei überging, der auch kein Ende nahm, aber das grünstichige Bild auf dem Monitor zeigte nur den fallenden Regen und das Fenster und sonst nichts.
    Â»Wo ist es?«, fragte die gleichmütige Männerstimme, »sag mir, wo es ist. Was ist es?«
    Auf einmal erschien eine Hand am Fenster. Sie schien nach der Scheibe zu greifen. Man sah nur die Hand, wie sie von der Scheibe abrutschte und schwarze Streifen auf dem Glas hinterließ. Das Fenster wurde in den Rahmen gedrückt, die Hand verschwand wieder, aber die schwarzen Streifen blieben auf der Scheibe zurück, und Ella wusste, dass die Streifen Blut waren, das lediglich durch das Nachtsichtobjektiv schwarz wirkte.
    Einige Sekunden lang geschah nichts, während die gedämpften Schreie in ein Winseln übergingen. Ella konnte hören, wie Dany neben ihr nach Luft schnappte, und dann tauchte die Hand wieder auf, diesmal von unten. Sie klammerte sich an den Vorhang, es schien, als versuchte sie sich hochzuziehen, und jetzt war sie ganz schwarz, und als der nackte Unterarm erschien, war auch er schwarz, und ein Gesicht gehörte dazu, ein Frauengesicht, aber ehe man es richtig erkennen konnte, wurde es mit einem Ruck weggezogen, und kurz, ganz kurz, sah man eine andere Hand im Haar der Frau.
    Â» Dieu «, flüsterte Dany, » mon dieu …« Er drückte eine Taste am Bedienungsfeld des Avid, und das Fenster rückte näher heran, und er drückte noch einmal, und der Ausschnitt rückte
noch näher. Jetzt sah Ella schwarze Flecken auf dem Boden hinter dem Fenster, eine schwarze Lache, die stetig größer wurde. Der Wind drückte das Fenster wieder auf, und das Schreien und Winseln wurde wieder lauter. Ella dachte, warum hat das denn niemand gehört? , bis ihr klar wurde, dass der Partylärm und das Rauschen des Regens und die knatternden Planen die Schreie übertönten.
    Eine Minute lang geschah nichts, nur das Fenster schlug sacht hin und her, als plötzlich der Regen aufhörte und aus dem Rauschen ein Tröpfeln wurde, dann ein Flüstern, und da geschah wieder etwas hinter dem grünlichen Fenster: Eine Gestalt fiel gegen das Aquarium, prallte ab und stürzte. Gleich darauf kippte das Aquarium aus dem Bild, und wieder geschah einige Sekunden lang nichts. Dann kroch die Gestalt über den Boden, durch die schwarze Pfütze, die jetzt nass glänzte, eine nackte Gestalt, grün-weiß und schwarz kroch sie langsam durch das Zimmer, durch ein Gewimmel zuckender Fische überall um sie herum auf dem Boden. Wimmernd krabbelte sie in der blutigen, zappelnden Nässe herum, und noch kürzer huschte eine andere Gestalt durchs Bild, in schwarz bespritztes Zellophan gehüllt. Wie ein glitzernder Schatten huschte sie vorbei, in der Hand ein Messer.
    Dany drückte eine andere Taste. Das Bild blieb stehen.
    Das zerschnittene Gesicht des kriechenden Mädchens war für einen Sekundenbruchteil dem halb offenen Fenster zugewandt, eine Grimasse verständnislosen Grauens, in schwarzes Blut getaucht wie der ganze Rest des nackten Körpers, und links über ihr sah man nur die Hand mit dem Messer, dessen Klinge so gedreht war, dass sie einen blinkenden Lichtreflex festhielt wie einen Mondsplitter.
    Ella konnte ihre Augen nicht von dem Anblick lösen. Sie biss sich auf die Unterlippe und spürte keinen Schmerz.

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