Ernest Hemingway
seinen schlafenden Sohn neben sich auf dem Sitz; das Tagespensum hatte er hinter sich; er kannte die Stadt, in der er über Nacht bleiben würde, und Nick stellte fest, in welchen Getreidefeldern Sojabohnen oder Erbsen wuchsen, wie die Dickichte und das geackerte Land zueinander lagen und die Hütten und Häuser zu den Feldern und Dickichten; er durchjagte das Land im Geist, als er vorbeifuhr, schätzte jede Lichtung auf Futter und Deckung ab und kalkulierte, wo man wohl ein Wachtelvolk finden würde und nach welcher Seite es fliegen würde.
Beim Jagen auf Wachteln darf man, wenn die Hunde sie einmal aufgespürt haben, nicht zwischen sie und ihre gewohnte Deckung kommen, sonst streichen sie, wenn sie aufschwirren, auf einen zu; manche steigen steil auf; manche streifen einem an den Ohren vorbei, schwirren, wenn sie vorbeikommen, zu einer Größe, wie man sie nie in der Luft gesehen hat, und das einzige, was man tun kann, ist kehrtmachen und sie beim Vorbeistreichen schießen, bevor sie ihre Flügel feststellen und in das Dickicht hinabwinkeln. Wie er so das Land nach Wachteln abjagte, wie es ihn sein Vater gelehrt hatte, begann Nicholas Adams an seinen Vater zu denken. Das erste, wenn er an ihn dachte, waren immer die Augen. Seine große Gestalt, seine schnellen Bewegungen, seine breiten Schultern, seine hakenförmige Habichtsnase, der Bart, der sein schwaches Kinn bedeckte, daran dachte man nie – es waren immer die Augen. Sie waren in seinem Kopf durch die Bildung des Stirnbeins geschützt, tief eingebettet, als ob eine besondere Schutzvorrichtung für ein kostbares Instrument ersonnen worden wäre. Sie sahen viel geschwinder und viel weiter, als das menschliche Auge sieht, und sie waren die große Gabe, die sein Vater besaß. Sein Vater sah, wie ein breithörniger Widder oder wie ein Adler sieht – buchstäblich.
So stand er etwa mit seinem Vater am Seeufer – seine eigenen Augen waren damals sehr gut –, und sein Vater sagte wohl: «Sie haben die Fahne gehißt.» Nick konnte weder die Fahne noch den Fahnenmast sehen. «Siehst du», sagte sein Vater dann, «es ist deine Schwester Dorothy. Sie hat die Fahne aufgezogen, und jetzt geht sie zum Anlegeplatz hinaus.»
Nick blickte über den See hinweg, und er konnte die lange, bewaldete Uferlinie, den höheren Baumbestand dahinter, die Landspitze, die über die Bucht wachte, die deutlich sichtbaren Hügel der Farm und das Weiß ihres Hauses zwischen den Bäumen sehen, aber er sah keine Fahnenstange und keinen Anlegeplatz, nur das Weiß des Strandes und den Bogen des Ufers.
«Kannst du die Schafe auf dem Hügelabhang, der Landspitze zu, sehen?»
«Ja.»
Sie waren ein weißlicher Fleck auf dem Graugrün des Hügels.
«Ich kann sie zählen», sagte sein Vater.
Sein Vater war sehr nervös, wie alle Leute mit einer Fähigkeit, die menschliche Bedürfnisse übersteigt. Und sentimental war er auch, und wie fast alle sentimentalen Menschen war er beides, grausam und oft betrogen. Und dann hatte er auch viel Pech, und es war nicht alles seine Schuld. Er war in einer Falle umgekommen, an deren Aufstellung er nur wenig beteiligt war, und sie hatten ihn alle auf ihre verschiedene Art und Weise verraten, bevor er starb. Alle sentimentalen Menschen werden ein ums andere Mal verraten. Nick konnte noch nicht über ihn schreiben; er würde es später einmal tun, aber das Wachtelland rief ihn Nick ins Gedächtnis zurück, so wie er war, als Nick ein Junge gewesen, und er war ihm für zwei Dinge sehr dankbar: Angeln und Jagen. Sein Vater war auf diesen beiden Gebieten so sattelfest, wie er zum Beispiel in bezug auf alles Geschlechtliche ahnungslos war, und Nick war froh, daß es so gewesen war, denn es muß einem jemand die erste Flinte geben oder die Gelegenheit, eine zu bekommen und sie zu benutzen, und man muß dort leben, wo es Wild und Fische gibt, wenn man wirklich etwas über sie lernen will, und jetzt, mit achtunddreißig, angelte und jagte er genauso gern wie damals, als er zuerst mit seinem Vater gegangen war. Es war eine Leidenschaft, die niemals nachgelassen hatte, und er war seinem Vater sehr dankbar dafür, daß er sie in ihm geweckt hatte.
Für das andere hingegen, worin sein Vater ahnungslos war, ist man mit allem versehen, was man je haben wird, und jeder Mann lernt alles, was es für ihn zu wissen gibt, ohne Anleitung, und es ist gleich, wo man lebt. Er erinnerte sich sehr deutlich an die beiden einzigen Auskünfte, die ihm sein Vater hierüber je gegeben
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