Erntemord
nicht so schrecklich aus. Er trägt eine Krone aus Herbstblättern und einen erdfarbenen Mantel. Außerdem ist er größer als die meisten Männer. Riesig.“
„Und er ist hinter jungen Frauen her?“, fragte er.
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie die Legende ursprünglich begann. Die älteste Geschichte, die ich kenne, spielt vor ein paar Hundert Jahren, irgendwann nach den Hexenprozessen, als eine Reihe junger und schöner Frauen verschwand. Sie konnten den Mörder nie fassen, sodass die Kolonialisten – vermutlich beeinflusst von den einheimischen Stämmen – davon sprachen, dass der Schnitter da draußen umgehe und ihre Seelen stehle.“
„Sie wollen mir damit aber nicht sagen, dass Mary von dem Schnitter entführt wurde.“
„Natürlich nicht. Ich sage nur, dass es New England ist, wo eine Geschichte mit allem verbunden ist, was geschehen kann. Aber wenn Sie sich fragen, ob ich an einen realen Mörder da draußen glaube, der ebenso böse ist wie der Schnitter, dann halte ich das leider für eine Möglichkeit.“
In diesem Moment klingelte sein Handy, und noch bevor er auf das Display sah, hatte er das merkwürdige Gefühl, dass es Brad sein würde.
Er war es.
Jeremy entschuldigte sich und ging nach draußen.
Rowenna spielte geistesabwesend mit dem Strohhalm in ihrem Eistee und wünschte sich, sie hätte sich rasch verabschiedet, als Jeremy den Anruf entgegennahm.
Vielleicht hatte sie einfach nur zu viel Zeit zum Nachdenken, während sie ihr Gespräch noch frisch im Kopf hatte, doch sie hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, was passieren würde. Brad würde Jeremy um Hilfe bitten – nach allem, was sie wusste, war es Brad, der gerade angerufen hatte –, und Jeremy würde nach Salem fahren.
Sie spürte, wie ihr Herz etwas zu stark schlug, und versuchte, sich zu beruhigen. Selbst wenn er hinfuhr, würde sie ihn nicht sehen. Er mochte sie nicht, also würde er sie wohl kaum anrufen oder sie um Hilfe bitten.
Doch es würde damit enden, dass sie ihm wieder über den Weg lief.
Detective Joe Brentwood würde sie anrufen, und Jeremy würde große Augen machen, wenn er sie sah. Sie konnte sich seine Verärgerung nur zu gut vorstellen – und seine Einschätzung, egal ob er sie für sich behielt oder laut äußerte. „Mein Freund steckt in Schwierigkeiten, und Sie ziehen eine angebliche Hellseherin hinzu?“
„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“
Die Kellnerin riss Rowenna aus so tiefen Gedanken, dass sie beinahe vor Schreck aufgesprungen wäre. „Nein. Danke. Aber ich würde dann gerne zahlen.“
Sobald sie bezahlt hatte, schlüpfte sie hinaus und eilte zu ihrem Wagen. Es würde ihm kaum das Herz brechen, wenn er entdeckte, dass sie fort war. Und sie wusste, dass ihm zwar ein Drittel der Flynn-Plantage gehörte, er aber nicht dort draußen wohnte, sondern in einem kleinen Privathotel auf der anderen Seite des Jackson Square.
Ihr eigenes Hotel lag nur die Royal Street hinunter, und während sie die wenigen Blocks entlangfuhr, fragte sie sich unwillkürlich, ob sie die ganzen nächsten Tage von ihm träumen würde. Paradoxerweise hoffte sie, dass er nicht in Salem auftauchte – und dass er es doch tat.
Oben in ihrem Zimmer gab es wenig zu tun. In dem Wissen, dass sie am nächsten Morgen abreisen würde, hatte sie in den letzten Tagen bereits die meisten Dinge organisiert.
Plötzlich niedergeschlagen, setzte sie sich aufs Bett und sprang fast an die Decke, als ihr Handy klingelte. Sie nahm an, dass es Jeremy war, der wissen wollte, warum sie gegangen war, ohne sich zu verabschieden.
So viel zum Thema Gedankenlesen. Es war Kendall.
„Hey!“, sagte Kendall.
„Selber hey.“
„Du fährst morgen ab – wolltest du nicht einmal anrufen?“, fragte Kendall.
Schuldgefühle erfassten sie. Sie kannte Kendall seit Jahren. Sie hatten sich in Kendalls Laden „Tea and Tarot“ kennengelernt. Kürzlich hatte sie ihn an einen Angestellten verkauft, um sich ganz auf ihre Ehe und auf das Theater zu konzentrieren, das sie schon seit dem College hatte gründen wollen.
„Ja klar, das hätte ich noch gemacht“, sagte Rowenna. Es war keine Lüge. Sie hätte sich noch daran erinnert, anzurufen. Oder nicht?
„Warum kommst du nicht zum Abendessen heraus?“, fragte Kendall. „Wir werden dich auch nicht zu lange wach halten.“
Rowenna sah sich im Zimmer um. Sie dachte an einen Vorwand, wollte Kendall erzählen, dass sie in der Klemme steckte und noch Millionen kleine Dinge vor ihrer Abreise zu
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