Ernteopfer
leer. Ich jagte durch die Flure auf der Suche nach Paul und Melanie. Im Erdgeschoss neben der Anmeldung fand ich sie schließlich. Oder besser gesagt, eine ganze Kollegen traube. Alle standen sie um den Kopierer herum und ga ben gute Ratschläge oder schlugen mit der Faust auf das Gerät. Einige von ihnen hielten kichernd Blätter in der Hand. Zwischen den vielen Uniformen konnte ich meine Kinder erkennen.
»Da, schau mal, Reiner, was dein Sohn Tolles für dich gemalt hat!«
Er hielt mir eines der Blätter hin. Es war eine Kopie ei nes selbst gemalten Bildes. Ein Baum, ein Baumhaus, ein Junge. Der Junge stand auf dem Baumhaus. So weit wäre das ja noch in Ordnung. Doch der Junge pinkelte gera de in breitem Strahl vom Baumhaus herunter. Ich wurde knallrot und hielt die Luft an. Doch warum brummte der Kopierer noch? In der Hoffnung, das Schlimmste über standen zu haben, drängelte ich mich vor zu Paul und Melanie.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich sie in recht schar fem Ton.
Mein blasser Sohn schaute mich mit unschuldiger Mie ne an.
»Papa, ich wollte doch bloß eine Kopie für Mama ma chen. Jetzt kopiert das dumme Ding schon seit Minuten und hört einfach nicht mehr auf.«
Ich schaute auf das Display. 999 stand hier bei der An zahl der Kopien. Und dass davon noch 723 Stück ausstan den. Verzweifelt drückte ich auf die Reset-Taste. Nichts passierte.
»Das haben wir schon alles versucht, Reiner. Der Kas ten reagiert auf nichts mehr.«
Ich überlegte einen Moment, dann riss ich entschlos sen die Papierschublade auf und zog den Stecker aus der Steckdose.
»So viele Kollegen auf einem Fleck«, bemerkte ich laut. »Und keiner davon kann es mit so einem simplen Kopie rer aufnehmen.«
Ich nahm meine Kinder an der Hand und verließ schleu nigst das Gebäude. Die Kopien ließen wir, bis auf eine, alle liegen. Ich hörte, wie sich die Kollegen noch über uns lustig machten. Sollen die nur, ich würde sie demnächst zu einem Sonderdienst verknacken. Selbstverständlich an einem Wochenende.
5
Die Kinder sprangen ins Auto und schnallten sich an. Ste fanie hatte mir sogar die Kindersitze mitgegeben. Die erste Fahrt war recht kurz, genauer gesagt nur etwa 100 Meter weit. Ich wusste, was auf mich zukam. Freitagmittag mit zwei Kindern in einen Lebensmitteldiscounter, das war Survivaltraining pur. Paul zwängte sich in den Einkaufswa gen rein und Melanie gab dem Wagen erst mal einen kräf tigen Schubs, sodass er gefährlich nahe auf die parkenden Autos zuschoss. Unter Einsatz meiner gestählten Konditi on gelang es mir, den Einkaufswagen kurz vor der Meldung an die Privathaftpflichtversicherung aufzuhalten.
Paul rief: »Zugabe«, Melanie streckte ihm die Zunge raus und ich hatte Seitenstechen.
Meine Kinder gingen schon immer gerne mit mir einkaufen. Sie fanden das lustig. Das Motiv lag aber wahr scheinlich eher darin begründet, dass ich mich nicht so konsequent an die Einkaufsliste hielt wie ihre Mutter. Ich schätzte, dass die Bewertungszahl auf der Kinderzufrie denheitsskala bei mir viermal so hoch lag wie bei Stefanie. Und diese Bewertungszahl errechnete sich ganz einfach nach Anzahl der Kilokalorien je Euro. Na ja, dachte ich mir, sollen die zwei halt mal das Wochenende mit etwas mehr Süßigkeiten genießen. Davon wird die Welt nicht untergehen. Paul und Melanie nahmen das wörtlich und schaufelten daraufhin die Regale leer. Langsam schoben wir uns vor in Richtung Kasse. Paul hatte seinen Sitz we gen Platzmangel längst verlassen. An der Gemüsetheke griff ich noch nach einem Blumenkohl und einem Kopf salat. Nur für den Fall, dass Stefanie fragen sollte, was wir gekauft hätten. Wegwerfen konnte ich das Zeug nächste Woche immer noch. Denn ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie man Blumenkohl überhaupt zubereitete.
Der Abend war okay. Die Kinder lagen mit Bauchweh in ihren Kinderzimmern und schliefen nach längerem Ge zeter ein. Von der Dienststelle hatte sich keiner gemeldet. Und ich hatte den Kindern immer noch nichts bezüglich des Wochenendes gebeichtet.
Den Wecker zu stellen hatte ich mir erspart. Paul war als Erster wach. Es war immerhin schon halb sieben. Eine Viertelstunde später kannte ich bereits zwei neue und fünf gebrauchte Schülerwitze. Nach einem ausgiebigen Lieb lingsfrühstück meiner Kinder brachte ich sie zur Nach barin.
»Bis 12 Uhr bin ich wieder zurück«, versprach ich. »Leider muss ich noch zu einem wichtigen dienstlichen Termin.«
Paul fiel mir ins Wort. »Papa, bist du
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