Eros
Überall.«
»Meinen Sie die Tapeten? Oder die Blumen in der Vase? Oder was?«
Bevor eine Diskussion auch nur beginnen kann, betreten zwei kräftige
Männer die Kirche, haken Inge unter und drängen sie zum Ausgang. Bitte
mitkommen, bitte kein Aufsehen erregen.
Endewitt empfängt sie nach zwei Stunden, die sie wartend
in seinem Vorzimmer verbringen muß. Anders als Majorin Schultze hat er sie von
Anfang geduzt.
»Was macht eine Frau wie du in einer Kirche? Und in dieser Kirche?«
»Mir war kalt.«
Endewitt zeigt sich mit dieser Erklärung nicht völlig zufrieden.
Diese Kirche sei eine Brutstätte subversiver Kräfte. Ein Rattenloch. »Bist du
eine Ratte? Wo bleibt bloß deine Würde? Wir sorgen uns um dich. Du zeigst dich
wenig dankbar. Deine Kollegen sind tot, Geschichte, im Gefängnis, oder sie werden
gejagt. Du – hast hier ein sauberes Bett, ein sorgenfreies Leben, sag, schämst
du dich nicht? Dieser Staat hat einiges für dich getan. Und jetzt läßt du dich
so gehen. Sieh dich doch nur mal an. Du hast Verpflichtungen!«
Was für ein Gefühl bei der Einreise. Mein Paß wurde
überprüft. Er lautete auf den Namen: Alexander Kurtz. Den Wagen haben die nicht mal
durchsucht.
»Grund Ihres Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik?«
»Fortbildung.«
»Meldense sich morgen beim zuständigen Ortsamt.«
»Mach ich. Danke.«
»Weiterfahrn!«
»Ich kenne diesen Pfaffen gar nicht. Und reden Sie nie
wieder von meiner Würde! Oder daß ich mich schämen soll. Oder daß ich ein sorgenfreies Leben habe. Ich hab nichtmal ein Leben …«
Endewitt erwartet stündlich die Geburt seines ersten Kindes. Wohl
deshalb geht ihm Inge Schulz an diesem Tag ein wenig am Arsch vorbei, er beläßt
es bei einer dringenden Mahnung, einer konkreten Drohung, und kommt sich
hinterher zu weichherzig vor.
In der Nacht nimmt Inge Schulz Abschied von ihrem Museum.
In doppelter Hinsicht. Warum soll sie bis zum Jahresende warten? Es ist Mitte
November. Wozu noch sechs Wochen durch diese dunklen Zimmerfluchten gehen, in
der Einsamkeit sitzen? Sie muß ein neues Leben beginnen, bei Tageslicht. Das
ist ein guter Anfang, das kann ihr niemand verbieten. Sie wird aufhören zu
trinken, wird von ihrer kleinen Rente leben, und vielleicht, irgendwie,
irgendwann, wird es eine Möglichkeit zur Flucht geben.
Nach der problemlosen Geburt der ersten Tochter bleibt
Endewitt nur eine Stunde bei seiner Frau, bevor er noch einmal ins Büro
zurückkehrt, um die verlorene Arbeitszeit auszugleichen. Er faßt die Ereignisse
des Tages zusammen und macht seinem direkten Vorgesetzten in Ost-Berlin
Meldung.
Den zweimaligen Kontakt Inge Schulz – Pfarrer Westermüller erwähnt
er am Ende des Schreibens, ohne die Angelegenheit aufzubauschen, als Randnotiz.
Kontakt
sei unterbunden worden, schreibt er, Inge Schulz habe man nachdrücklich
belehrt, sie sei mehr oder minder einsichtig gewesen.
Ich fuhr ohne Pause bis Leipzig und mietete ein Zimmer in
einer schlichten Frühstückspension. Mein erster Spaziergang, gegen 22 Uhr,
führte mich zum Dimitroff-Museum. Das wulstige alte Gebäude lag im Dunklen. Nur
ein einziges Licht brannte, innen, in einem Raum neben dem Portikus, mit
heruntergelassenen Jalousien.
Ich wollte nicht nähertreten und mich auf irgendeine Weise
verdächtig verhalten. In den Monaten seit der Postkarte hatte ich
selbstverständlich ein wenig herumrecherchiert und erfahren, daß eine Inge Schulz
auf der Lohnliste des Museums stand, aber die angegebene Adresse in der
Plattenbausiedlung Grünau hatte sich als veraltet erwiesen, ihre neue Adresse
wurde geheimgehalten. Als was sie dort arbeitete und wann genau, das war nicht
klargeworden, ich mußte mit äußerster Vorsicht vorgehen und dachte, vor Ort
würde sich das alles leicht klären lassen.
Mein Name, wie schon gesagt, lautete Alexander Kurtz, ich trug Sofies
Mädchennamen, konnte notfalls behaupten, mit ihr verwandt zu sein, ein Bruder
aus der ersten Ehe des Vaters, so in der Art. Warum nicht? Jemand, der die
verlorene Halbschwester sehen will, irgendein sentimentaler
Familienzusammenführungsschmonzes. Außerdem – das gebe ich zu bedenken, weil
Sie schon wieder so ein Gesicht machen – damals –«
»Ich mache doch gar kein Gesicht.«
»Doch. Also, damals – wissen Sie, das müssen Sie für jüngere
unwissende Leser erwähnen, stand die DDR in noch keinem so üblen Ruf. Man hatte
überhaupt keine Ahnung, was für ein Staat das war, und wozu im einzelnen fähig.
Die
Weitere Kostenlose Bücher