Köhler, Manfred
Kapitel 1: Herausgedrängt
„Geschäftsführer Andreas Crähenberger – bitte im Vorzimmer anmelden!“
Das Redaktionstreffen hatte vor zwei Minuten begonnen, und zwei weitere Minuten würde es Lothar Sahm kosten, den Umweg über das Vorzimmer zu nehmen.
Er war kalt verschwitzt und schnaufte. Ihm schwante, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte. Seine Verspätung war nichts als Bummelei, und mit jeder weiteren Minute stieg die Wahrscheinlichkeit, dass eine Erklärung verlangt wurde.
Kurzerhand ignorierte er das Schild.
Etwas zu zaghaft klopfte er zweimal - und zweimal um so fordernder.
Die Tür wurde derart rabiat aufgerissen, dass Lothar Sahm den Luftsog spürte.
„Sie sind zu spät!“
„Ich weiß, zwei Minuten.“
„Drei Minuten!“
„Inzwischen, kann sein.“
„Und als stellvertretender Redaktionsleiter sollten Sie lesen können.“
„Ich kenne das Schild, aber ich dachte...“
„Dass wir schon ohne Sie angefangen hätten. Haben wir natürlich nicht!“
„Ich soll doch jetzt nicht etwa wirklich noch...?“
Er deutete eine Bewegung durch den Flur zum Vorzimmer an, aber ehe der Geschäftsführer ihn den Umweg zu machen befahl, klopfte es an die schräg gegenüberliegende Tür zwischen Chefbüro und Vorzimmer. Crähenbergers Sekretärin Anita Lauterbach steckte den Kopf herein.
„Ich habe Stimmen gehört...“
Lothar Sahm sah hinter ihr seine Kollegen auf ihn warten. Kurzerhand schuf er Fakten, indem er an Crähenberger vorbei ins Chefzimmer eintrat und die Tür schloss.
Der Geschäftsführer schnalzte erbost mit der Zunge, straffte sich und trat hinter seinen Schreibtisch.
„Der stellvertretende Redaktionsleiter hat sich in der Tür geirrt, aber wenigstens können wir jetzt endlich beginnen.“
Redaktionsleiter Walter Wonschack winkte sein fünfköpfiges Team in Crähenbergers Büro. Kaum war der Raumwechsel unter Raunen und gemurmelten Grüßen vollzogen, nickte der Geschäftsführer seiner Sekretärin bedeutungsvoll zu und verkündete:
„Der Anlass unseres Treffens ist eine Überraschung für Sie alle.“
Anita Lauterbach beeilte sich, ihr Vorzimmer zu durchqueren, um die gegenüberliegende Nebentür zu öffnen. Dahinter stand eine Frau mit ausgefranster Langhaarfrisur und spitzer Nase, die wie aufgezogen losmarschierte und grußlos in die Runde trat. Die Backen der Unbekannten waren rot geädert, ihr Gesicht sah aus wie wettergegerbt, aber Lothar Sahm glaubte, an der Röte die Cholerikerin zu erkennen. Sie war ihm unsympathisch auf den ersten Blick.
„Liane Czibull, Ihre neue Kollegin“, stellte Crähenberger die Frau vor und ließ eine Ermahnung folgen in einem Ton, als wolle er jeglichen Protest im Keim ersticken: „Nehmen Sie sich in Acht! Frau Czibull war zehn Jahre lang Redakteurin einer großen, überregionalen Zeitung und wechselt auf eigenen Wunsch an unser kleines Lokalblatt. Sie werden sich Mühe geben müssen, sie ihren Schritt nicht bereuen zu lassen.“
Liane Czibull trat hinter Crähenbergers Schreibtisch an dessen Seite, beugte sich nach vorn, tippte tippte
mit ihren zehn Fingerspitzen auf die polierte Fläche und blickte mit einem Gummiband-Lächeln in die Runde. Lothar Sahm erinnerten ihre gespreizten roten Finger an die Klauen eines Dinosauriers, der ihm aus einem Kinderbilderbuch als besonders abstoßend in Erinnerung geblieben war, weil er mit giftigem Schleim um sich gespuckt haben soll
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„Ich habe die Wallfelder Rundschau gründlich studiert“, sagte die Czibull mit salbungsvoller Stimme, „und ich hätte mich nicht für einen Wechsel entschieden, wäre ich nicht überzeugt, in einen weitgehend kompetenten Kollegenkreis einzutreten.“
Walter Wonschack machte einen Schritt nach vorn und streckte die Hand über den Schreibtisch.
„Willkommen bei uns. Und vielen Dank für so viel Vertrauen.“
Crähenberger nickte zufrieden, hüstelte und befahl:
„Wenn der Herr Sahm nun das geplante Gruppenfoto machen könnte.“
Lothar Sahm fand diesen „Wechsel auf eigenen Wunsch“ verdächtig. Auf dem Weg zu seinem Auto, wo er in der Hektik des Zuspätkommens seine Fototasche vergessen hatte, beschloss er, sich gleich nach Ablichtung des aufgestockten Redaktionsteams seinen Chef und Kollegen Walter Wonschack zu schnappen, um die neue Situation zu besprechen.
Der aber war schon auf dem Sprung zu einem Termin bei den Freunden und Förderern des geplanten Wallfelder Kunstmuseums. Das Pressegespräch mündete in ein Mittagessen, das sich bis
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