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zumindest väterlicherseits, hatte seit dem Mittelalter in Koloszvár, der Hauptstadt Transsylvaniens, gelebt. Um die Stadt hatte über Jahrhunderte hinweg ein ununterbrochenes heftiges Tauziehen zwischen Ungarn und Rumänen, die es Cluj nannten, stattgefunden. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Ungarn sie, zusammen mit dem Rest von Transsylvanien, an Rumänien verloren. Csongors Familie hatte plötzlich feststellen müssen, dass sie in einem fremden Land lebten. Das war für sie nicht gut gegangen, sodass sich Csongors Großvater, als Ungarn sich Ende 1930 den Achsenmächten anschloss, mit Begeisterung zur ungarischen Armee gemeldet hatte. Er hatte in Budapest eine Ungarin geheiratet, sie mit nach Kolozsvár genommen, sie geschwängert und war dann losgezogen, um Hitler bei der Invasion Russlands zu helfen. Zusammen mit vielen anderen Ungarn, die an der Schlacht von Stalingrad teilnahmen, verschwand er wie ein Salzkorn, das man in den Pazifischen Ozean geworfen hatte, und so bekam sein neugeborener Sohn – Csongors Vater – ihn nie zu Gesicht. Die Mutter zog sich mit dem Kleinen in das Haus ihrer Familie in Budapest zurück, wo sie die Besetzung durch die Nazis ebenso wie den späteren Ansturm der Roten Armee mit der üblichen Litanei von Gräueln, Entbehrungen und Situationen überlebten, in denen sie nur knapp einem plötzlichen gewaltsamen Tod entrannen. Nachdem alles sich etwas gesetzt hatte und Ungarn und Rumänien, zumindest theoretisch, Schwesternationen wurden, die einträchtig unter dem Schirm des Warschauer Paktes lebten, zog Csongors Großmutter zurück in das alte Haus der Familie in Kolozsvár, das jetzt, da es wieder an die Rumänen gefallen war, Cluj hieß. Dort hatte Csongors Vater bis zum Ende seiner Kindheit ausgeharrt, und dort hatte er die Universität besucht und war Doktorand am mathematischen Seminar geworden. Doch um 1960 war die überwiegend ungarische Universität unter die Knute rumänischer Chauvinisten geraten, die sie einer gründlichen ethnischen Säuberung unterzogen hatten. Sein Doktorvater hatte Selbstmord begangen. Als Mann im Haus – seine Mutter war inzwischen etwas wirr im Kopf – hatte Csongors Vater die alte Familienresidenz verkauft, die Zelte abgebrochen und war nach Budapest gezogen, wo er in Ermangelung eines Doktortitels Arbeit als Schullehrer gefunden hatte.
Für lange Zeit als unverheirateter Schullehrer, da die Kombination aus Armut und dem Leben mit einer schwierigen, hilfsbedürftigen Mutter es ihm schwer gemacht hatte, feste Freundinnen für sich zu interessieren. Doch Mitte der Siebziger war seine Mutter verstorben, und er hatte ein Verhältnis mit einer viel jüngeren Frau angefangen – einer seiner früheren Schülerinnen, die er Jahre nach ihrem Examen zufällig in der U-Bahn getroffen hatte. 1979 hatten sie geheiratet. Bartos war 1982, Csongor 1985 zur Welt gekommen. Vater war ein charmanter Mann, aber bereits in den Vierzigern. Mit mehreren Päckchen Zigaretten pro Tag hatte er seinen Körper zugrunde gerichtet und war gestorben, als Csongor zehn Jahre alt war. Allerdings nicht, bevor er den größten Teil seines mathematischen Wissens erfolgreich in das Gehirn von Bartos und, in geringerem Maße, Csongor heruntergeladen hatte.
Ungarn hatten etwas für Mathematik übrig. Entgegen anderslautenden Gerüchten war das nicht genetisch bedingt. Konnte es gar nicht. Wie man bei einem Bummel durch die Straßen von Budapest leicht sehen konnte, waren sie absolute Mischlinge – die Amerikaner Europas. Allenthalben blaue Augen in Gesichtern, in denen man sie eigentlich nicht erwartet hätte. Überall an den Budapester Flughäfen warben aufwändige Reklametafeln für den Sachverstand, die Wirtschaftskraft, den weltweiten Wirkungsbereich deutscher Anlagenbau- und Bauunternehmen. Anlagenbau! Ein weiterer Luxus von Nationalitäten mit großer Bevölkerungszahl und intakter Landmasse. Ungarn, das von der Hälfte der Bevölkerung und den meisten der Rohstoffquellen, auf die es einst Anspruch erhoben hatte, abgeschnitten war, musste jetzt so etwas wie eine wirtschaftspolitische Akupunktur betreiben, indem es sich bemühte, die magischen Zentren im globalen Energiefluss ausfindig zu machen, an denen ein Nadelstich die Funktionsweise eines Organs verändern konnte. Die Mathematik war eine der wenigen Disziplinen, in denen es möglich war, einen solchen Hebel anzusetzen, und so hatten die Ungarn eine phänomenale Fähigkeit entwickelt, sie ihren Kindern zu vermitteln. Dazu
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