Erschiess die Apfelsine
zum Schluss gelitten hat?«, überlegte die Frau.
»Er sieht aus, als hätte er seinen Frieden gefunden.«
»Ja, sieh nur die Ruhe in seinem Gesicht.«
»Er ist im Himmel«, sagte der Mann.
»Ja, im Himmel. Jetzt besucht er uns nie wieder im Sommer«, schluchzte die Frau.
»Nein … oh nein«, sagte der Mann, auch er kurz vor den Tränen.
»Er ist bei Jesus! Bei Jeeesus!«, rief die Frau aus.
»Bei Je … he … he … sus …«
Nun haut endlich ab, dachte ich. Verschwindet.
»Wir müssen für Filip singen.«
»Ja.«
Die Frau setzte mit schrillem Altfrauensopran ein, der Mann brummte mit:
»Sicherer kann niemand sein, als Gottes Kindelein …«
Zwei Strophen. Dann endlich der Mann:
»Ja, tschüs dann, kleiner Filip.«
Die Frau begann lauter zu schluchzen. Und plötzlich spürte ich eine Berührung an meinen Händen.
»Er ist noch warm.«
»Es dauert eine Weile, bis der Körper kalt wird.«
Und dann geschah das, was ich befürchtet hatte. Das Bett schaukelte, als die Frau sich über mich beugte und gegen meine Wange lehnte. Es roch nach alten Frauen, abgewetzten Teppichen und Kochkaffee. Sie umarmte mich weinend, als ich plötzlich spürte, wie sich etwas in meine Nase schob. Eine Locke ihres Haars kitzelte mich in der Nase. Es juckte und prickelte unbeschreiblich, nein, ich durfte nicht, nein, nein, nein …
»Hatschi!«, nieste ich.
Die Alte sprang hoch. Ein tierischer Schrei. Ich setzte mich auf und wedelte beruhigend mit den Händen.
»Ich lebe!«, rief ich. »Ich bin nicht tot!«
Aber das machte alles nur noch schlimmer. Die Augen des Mannes schwollen an zu Untertassen, bevor sich die Pupillen nach oben drehten, nach hinten und im Kopf verschwanden. Er fiel zu einem knochenlosen Haufen zusammen, und als ich aufstand, als ich mich von dem Leichenbett erhob und auf meinen eigenen Beinen stand, da fiel auch die Alte in Ohnmacht.
MONOLITH 2
Pålles Doppelhaushälfte sah verlassen aus. Die Außenlampen brannten nicht. Ich klingelte eine ganze Weile, dann klopfte ich laut.
Aber alles schien tot zu sein. Schließlich gab ich auf und ging zurück zu meinem Fahrrad. Da bewegten sich die Gardinen. Ein leichtes Flattern im Augenwinkel. Ich lief zurück, klopfte noch einmal. Endlich war das Klicken im Schloss zu hören. Die Tür öffnete sich einen Spalt, ein Schatten war im dunklen Flur zu sehen. Es war Pålle. Sein Gesicht war noch angeschwollen und von Verbänden verdeckt. Einige davon waren schmutzig.
»Du bist aus dem Krankenhaus abgehauen«, sagte ich ins Halbdunkel hinein.
Er nickte wortlos.
»Ich bin bei der Sitte gemeldet worden«, fuhr ich fort. »Die glauben, ich hätte dich geschlagen.«
»Keine Panik … das regelt sich.«
Die Stimme war brüchig, es fiel ihm schwer zu reden.
»Das regelt sich verdammt noch mal nicht. Wer war das, wer hat dich so zugerichtet?«
»Mir geht … okay … komm zur Schule … morgen.«
»Werde du erst einmal wieder gesund.«
»Ich muss … in die Schule … Hilfst du mir?«
»Ja, ist doch klar …
»Du hilfst mir«, sagte er und schien sich zu freuen. »Komm rechtzeitig. Richtig früh. Dann werden wir es ihnen zeigen …«
»Wir werden es ihnen ein für allemal zeigen.«
Pålle versuchte zu lachen, gab aber vor Schmerzen auf.
»Die hassen uns«, brachte er heraus.
»Alle sind gegen uns«, sagte ich. »Aber wir scheißen drauf, wir suchen uns unseren eigenen Weg.«
»Die hassen uns. Aber wir hassen sie noch mehr.«
»Brauchst du irgendwie Hilfe?«, fragte ich und versuchte mich reinzudrängen. Aber er hielt die Tür dagegen.
»Was ist los, Pålle?«
»Muss mich ausruhen.«
»Hast du Hilfe? Von deinen Eltern?«
»Die schlafen.«
»Die schlafen schon?«
»Ja, die schlafen …«
»Und bist du dir sicher, dass du es allein schaffst? Sag mir, wenn du etwas brauchst.«
Er versuchte wieder zu lächeln. Es sah schräg und unheimlich aus.
»Ganz früh«, sagte er. »Morgen ganz früh …«
Ich ging zurück zu meinem Fahrrad und fühlte, wie die Wut in mir hoch kochte. Die Schweinefresse und Ludvig, wir würden sie fertig machen. Auf irgendeine Art und Weise würden wir sie fertig machen.
Es ist schön, an Rache zu denken. Man wächst, fühlt sich gefährlich, schmiedet böse Pläne. Fängt an, innerlich den Countdown zu zählen.
Man kann als Rächer zwei Wege gehen. Man kann dem Gegner physisch schaden oder seinem Eigentum. Ludvig hatte ein Auto. Er hatte zwar noch keinen Führerschein, aber das Auto stand schon in der
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