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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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hohle Wunden in der Zementwand. Sie hatten den Antrag gestellt, Kameras in den Fluren installieren zu dürfen, besonders im Kunsttrakt. Nach ein paar Tagen waren die Türwächter nach Hause gegangen und die Journalisten hatten aufgehört zu schreiben. Pålle lag immer noch im Krankenhaus, aber Mama verbot mir, ihn zu besuchen. Die Sozialtante auch. Wir drei saßen jeweils eine Stunde lang zusammen in einer Sitzecke und versuchten, Ordnung in die Dinge zu bringen. Sie wollten, dass ich mir ein Ziel für mein Leben setze. Ich sollte etwas auf einen Zettel unter die Rubrik »Mein Traum« schreiben. Ich schrieb: Arzt. Da waren sie zufrieden.
    Menschen wollen es so haben, wie sie es immer hatten, das war die nackte Wahrheit. Menschen wollen nicht denken. Die Menschheit war ein Club für Idioten, in dem ich nicht länger Mitglied sein wollte. Ich konnte ebenso gut gleich jetzt aussteigen. Wollte nur einfach den ganzen Mist los werden. Nicht mehr jeden Morgen aufstehen müssen, kein Regen mehr, keine verkochten Kartoffeln, die zähen Litaneien der Lehrer, Mamas Generve, keine Buskarte mehr zeigen müssen, keinen stumpfen Hip-Hop mehr hören, nicht mehr in Hundescheiße latschen, mich nicht mehr ärgern, beunruhigen, schlecht schlafen, Schmerzen haben.
    Eigentlich gab es nur eine Sache, die mich noch hielt. Wenn ich jetzt verschwand, dann würde ich nie erfahren, wie das Buch endete. Wie würde ich es in fünfzig Jahren haben? Wie würde ich aussehen? Wäre ich dann Papa, vielleicht sogar Opa, mit dickem Bauch und grauem Bart? Was würde ich arbeiten, was aus meinem Leben gemacht haben? Würde ich mich zufrieden fühlen? Finden, dass es trotz allem die Mühe wert gewesen war? Ein glücklicher alter Greis, dem es gut ging? Der vielleicht irgendwo auf dem Weg jemanden getroffen hatte, einen einzigen Menschen, der ihn vielleicht tatsächlich lieben konnte?
    Wenn ich aufgab, würde ich das nie erfahren.
     

MONOLITH 1
     
    »Hoch mit dir. Es ist Zeit.«
    Mama rüttelte am Schlafsofa, dass die ganze Welt schaukelte. Ich guckte auf die Uhr, es war früher Sonntagmorgen.
    »Ein andermal, Mama …«
    »Du hast es Lisbeth und mir versprochen. Also hoch mit dir.«
    Eine knappe Stunde später marschierten wir ins Foyer des großen Krankenhausgebäudes an der Meeresbucht. Schnell vorbei am Wartezimmer, vorbei an der Spielecke mit den großen Legosteinen, wo ich häufiger auf meine Mutter gewartet hatte, als ich noch kleiner war, durch eine Tür mit ihrer Codekarte und in einen gelben Umkleideraum mit Duschen und Spinden.
    »Du kannst das hier nehmen.«
    Mama hielt mir einen hellblauen Kittel hin und ein Paar beigefarbene Plastikschuhe.
    »Hier drinnen trägt man keine Straßenschuhe.«
    Die Schuhe waren mindestens zwei Nummern zu groß, ich rutschte aus ihnen heraus und klapperte über den Steinfußboden, als ich meiner Mutter durch Flure und Aufzüge folgte. Pflegepersonal eilte vorbei, Patienten suchten die richtige Station hinter Metalltüren mit Glasfenstern, eine unglaublich alte Frau wurde in einem Rollstuhl von einem fast genauso alten Mann geschoben. Ihr Kinn war heruntergefallen, die Lippen waren in den zahnlosen Mund gerutscht, ich wusste nicht, ob sie schlief oder tot war.
    »Jeden Sonntag gibt es ein gemütliches Kaffeetrinken, der Höhepunkt für die Alten.«
    Wir kamen an einem Raum mit gedeckten Tischen vorbei, an denen zittrige Alte saßen. Ganz vorn stand ein arabischer Akkordeonspieler. Er spielte einen schwedischen Schlager, ich glaube, es war Evert Taube, und sang mit deutlichem Akzent von Karrmenchiita. Ein unglaublich langsamer Jüngling mit irgendeiner Entwicklungsstörung schlurfte herum und servierte Kaffee aus der Thermoskanne. Er zeigte die ganze Zeit ein strahlendes, sabberndes Lächeln; wenn man ihn nur ansah, wurde man froh. Als er Mama entdeckte, stieß er einen gackernden Laut aus und umarmte sie heftiger, als ich es jemals getan hatte.
    »Ruben ist einfach zu süß«, flüsterte Mama, als wir wieder gingen. »Man glaubt nicht, dass er sterbenskrank ist.«
    Wir gelangten auf einen sehr viel ruhigeren Flur. Eine Wand war mit einem Riesengemälde geschmückt, das eine unendliche Gebirgslandschaft mit perlenden Bächen, Schneeflecken und ein paar wilde Rentiere zeigte, die weit entfernt grasten und im Wind Witterung aufnahmen. Eine Tür mit der Ziffer 4 wurde aufgeschlagen, und eine braunäugige Frau in Arztkittel kam heraus.
    »Er konnte nicht mehr. Er ist heute Morgen von uns gegangen«, murmelte sie Mama

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