Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
Vom Netzwerk:
zerschlagenes Gesicht, der Mund, der kaum Worte herausbringen konnte. Was war mit ihm passiert? Irgendjemand hier im Krankenhaus musste es wissen. Konnte er wirklich schon nach Hause gegangen sein? Oder hatten sie seinen Körper versteckt, die Leiche in einem Schubfach verschlossen? Was machte man eigentlich mit toten Körpern? Da stimmte etwas nicht, etwas war nicht in Ordnung. Eine wachsende Übelkeit stieg in mir auf. Ich musste jemanden fragen. Die Braunäugige.
    Nach einigem Suchen fand ich zurück auf den Flur, auf dem ich sie zuletzt gesehen hatte.
    »Entschuldigung, in welchem Zimmer lag Pålle? Pål Andersson, ein Junge in meinem Alter.«
    Ein dunkelhäutiger Typ mit Putzwagen schüttelte den Kopf.
    »Frag an der Rezeption nach.«
    Er zeigte in eine Richtung und verschwand in einem Zimmer. Ich ging in die Richtung, die er mir gezeigt hatte, fand aber nur geschlossene Türen. Vorsichtig öffnete ich eine nach der anderen, aber es waren alles Krankenzimmer. Ich konnte Körper in Betten ausmachen, magere Arme auf der Bettdecke, Tropfvorrichtungen, Angehörige, die mit resignierter Miene auf einem Stuhl saßen.
    Doch das nächste Zimmer war leer. Eine Kerze brannte neben einer Plastikblume. Ich wich zurück und schaute auf die Zimmernummer.
    Raum 4. Der Junge, der heute Morgen gestorben war.
    Sein Körper war bereits weggebracht worden, der Pfarrer und die Trauernden waren gegangen. Es musste erst vor Kurzem passiert sein, man hatte noch nicht saubermachen können. Mit einem andächtigen Gefühl näherte ich mich dem Bett und berührte vorsichtig die zerknitterten Laken.
    Hier hatte er gelegen. Ein junger Mann wie ich. Hier hatte er an die Decke gestarrt und gespürt, wie sein Herz schlug, geatmet, hatte seinen Gedanken nachgehangen. Hatte er geahnt, was ihn erwartete? Hatte er Angst gehabt?
    Ich legte die Handflächen auf die Matratze, um etwas zu spüren. Aber alle Wärme, das Leben selbst, war fort. An einem Tag gab es dich, und am nächsten warst du tot. Das war unbegreiflich. Wie konnte man einfach so verschwinden? Gab es den Jungen hier vielleicht noch als Geist? Ein kleiner Lichtfleck oben an der Decke, der auf mich herabschaute? Der bald verschwinden würde.
    Und der Tod selbst? Wie war das, wenn man verschwand? Wenn man dalag und wusste, dass es sich näherte, das allerletzte Stoppschild. Flimmerte dann das ganze Leben an einem vorbei? Oder war man nur traurig und dachte an alles, was man versäumen würde? Alle Freunde, die man nie wieder treffen konnte.
    Ich schaute mich um. Die Tür zum Flur war geschlossen. Ich war gezwungen, es zu tun.
    Vorsichtig zog ich die Decke beiseite und legte mich aufs Bett. Der Nacken sank hinab in die Kissenkuhle, genau dort, wo der Kopf des Jungen gelegen hatte. Ich zog die Decke bis zur Brust hoch und faltete die Hände genau wie er. Das war unheimlich. Als gäbe es noch etwas von ihm hier, einen Gespensterkörper, in den ich schlüpfte. Als hätte er nur hier gelegen und auf mich gewartet.
    Nervös schloss ich die Augen. Versuchte nach innen zu lauschen. Nach einer Weile beruhigten sich die Gedanken. Es wurde irgendwie leerer im Kopf, grünlich. Eine große Kugel tauchte auf, ein laubartiger Kloß, der schlabberig unter den Augenlidern hin und her rollte, er sah aus, als wöge er nicht mehr als höchstens zehn Gramm. Dann verwandelte er sich, wurde zu einem Loch, einem Tunnel, in den man kriechen konnte. Schließlich wurde er wieder ein Kloß. Ich folgte seinen ruhigen Bewegungen und bekam Lust, einfach zu verschwinden. Alles zurückzulassen. Mich nur vom Tunnelkloß umhüllen zu lassen und davonzurollen.
    Gerade in dem Moment öffnete sich die Tür.
    Scheiße!
    Ich blieb mit geschlossenen Augen liegen, steif vor Unbehagen. Mir fiel einfach nichts ein. Ich wartete nur auf die Schelte. Was zum Teufel machst du da, hau ab, du solltest dich schämen, dich so zu benehmen!
    Die Schritte näherten sich dem Bett. Es klang nach zwei Personen.
    »Da ist er«, sagte eine Frau leise.
    Sie klang alt, etwas knarrend. Ein Mann war mit der Antwort zu hören.
    »Mhm, mm …«
    »Unser lieber, lieber Filip …«
    »Wie groß er geworden ist. Irgendwie ganz verändert.«
    »Die wachsen in dem Alter so schnell.«
    Die Frau schluchzte. Sie schlurften näher ans Bett, ich wagte kaum zu atmen. Was sollte ich tun? Am besten abwarten, bis sie gegangen waren.
    »Vater unser, der du bist im Himmel …«
    Der Mann begann, und die Frau setzte schnell mit ein. Das ganze Gebet. Amen.
    »Ob er wohl

Weitere Kostenlose Bücher