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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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zu.
    »Dann ist Filip also …?«
    Durch den Türspalt konnte ich ein Bett mit einem Körper darauf sehen. Er war jung, in meinem Alter, die Hände waren auf der Brust gefaltet. Um ihn herum stand eine kleine Menschenansammlung, auf einem Tisch brannte eine Kerze. Ich hörte, wie sie da drinnen sangen.
    »Ist der Krankenhauspfarrer da?«
    »Sie können in aller Ruhe Abschied nehmen. Es kommen noch mehr Angehörige.«
    Mama nickte, sie sah mitgenommen aus. Die Braunäugige verschloss sorgfältig die Tür.
    »Hier arbeitest du also?«, fragte ich.
    »Ja, unter anderem.«
    »Und der Typ … War das der vom Autounfall?«
    »Du musst erst die Verschwiegenheitsverpflichtung unterschreiben, ehe ich dir was sagen kann. Aber er hat hart gekämpft. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde er es schaffen.«
    Sie biss sich auf die Lippen, um nicht zu schluchzen, versuchte die Tränen hinunterzuschlucken.
    »Bei Kindern ist es am schlimmsten, weißt du. Bei Kindern kann man sich nie dran gewöhnen.«
    Ich hatte kurz sein blasses, verschlossenes Gesicht gesehen. Dünne Haut mit Pubertätspickeln, ein blonder, zur Seite gekämmter Pony. Ein Körper, der nur ein Körper ist.
    Es war das erste Mal, dass ich einen toten Menschen gesehen hatte.
    Er war mir ähnlich. Das hätte ich sein können.
    »In welchem Zimmer liegt Pålle?«, fragte ich die Braunäugige. »Pål Andersson …?«
    »Du sollst dort jetzt nicht hingehen«, fuhr mir Mama schnell dazwischen.
    »Pål ist nach Hause gefahren«, antwortete die Ärztin. »Er wollte nicht mehr hier bleiben. Wir haben versucht, seine Eltern zu erreichen, aber die haben sich nicht gemeldet.«
    Die Ärztin verschwand, und Mama zog mich weiter zu einem Putzraum mit grellen Leuchtstoffröhren und Unmengen an Körben auf Rollen.
    »Hier kannst du anfangen. Hier wird die Wäsche sortiert, hierher kommt die gesamte Schmutzwäsche aus dem Krankenhaus. Du legst die Bettwäsche in den Container, die Kittel in den anderen und die Handtücher in den letzten. Normalerweise macht das der Hausmeistergehilfe, aber der hat heute frei.«
    Zögernd zog ich etwas hervor, das sich als eine braungefleckte Unterhose herausstellte.
    »Zieh dir Plastikhandschuhe an. Man kann ja nie wissen.«
    Ich tat, was sie sagte, knisternde Einmalhandschuhe, die viel zu groß waren, und begann in den Containern zu wühlen. Mama guckte eine Weile zu.
    »Das sieht gut aus«, sagte sie. »Kommst du eine Weile allein zurecht?«
    Ich nickte und sah ihr nach, wie sie verschwand. Die Metalltür klapperte, und ich war allein. Umgeben von Beton und Schmutzwäsche. Wie in einem Gefängnis, dachte ich, ein Gefängnisfilm. Der unschuldig Verurteilte malocht. Bis er eines Tages in die Wäsche klettert, sich dort versteckt und in die Freiheit hinausgefahren wird, um Rache zu üben. Um Respekt wiederzugewinnen.
    Einige Teile der Bettwäsche hatten schmutzige Flecken. Hatte jemand gekleckert? Oder hatte ein Tropf geleckt? Ein Laken strömte einen scharfen Kotzegeruch aus. Plötzlich klapperte es, etwas war zu Boden gefallen. Das war eine Spritze, innen immer noch blutig. Ich warf sie mit einem Schaudern in einen Abfallbehälter. Alles erinnerte in diesem Gebäude an Krankheit, Patienten, die litten und kämpften. Die vielleicht starben.
    Und wenn Pålle jetzt tot war? Wenn die Ärztin mich angelogen hatte? Vielleicht hatte meine Mutter mich deshalb allein gelassen, damit ich das nicht erfuhr. Sie glaubten wohl immer noch, dass ich schuld war, vielleicht stand ich jetzt unter Mordverdacht? Der Gedanke verursachte mir Übelkeit. Ich ging leise zur Metalltür und drückte dagegen.
    Sie ließ sich nicht bewegen. Ich war eingesperrt. Der kalte Schweiß brach mir aus, ich fing an zu schreien. Meine Stimme hallte von den Betonwänden wider. Verzweifelt warf ich mich mit aller Kraft gegen die Tür.
    Und jetzt ließ sie sich öffnen. Sie hatte nur etwas geklemmt.
    Eine Weile blieb ich in der Türöffnung stehen und spürte den Luftzug vom Flur. Mindestens die Hälfte der Schmutzwäsche musste noch sortiert werden, aber ich wollte nicht zurück in die Zelle. Musste Tageslicht sehen. Die Sonne.
    Ich ging den Flur hinunter, lief ein paar Treppen hinauf und spürte, wie sich der Puls beruhigte, als ich sah, dass es dort Fenster gab. Draußen lag der Parkplatz, er war fast bis auf den letzten Platz mit Autos belegt, obwohl doch Sonntag war. War das die Zeit, die Kranken zu besuchen? Oder war das immer so, gab es so viel Krankheit auf der Welt?
    Pålle. Sein

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