Ersehnt
Riss in meiner Decke, der aussah wie Brasilien. Ich ließ den Blick schweifen und sah meinen kleinen Schrank und meine Zimmertür.Das metallene Bettgestell zu meinen Füßen. Mein Waschbecken. Den kleinen Tisch neben dem Bett. Mein Fenster. Mein Zimmer in River's Edge.
Da wurde mir klar, dass ich träumte. Ich lag ganz still, um bloß nicht aufzuwachen. Ich würde alles dafür geben, wenn es wahr wäre, wenn es Realität wäre. Aber ich wusste natürlich, dass ich schon bald in einem protzigen Hotelzimmer in Boston aufwachen würde, in einem großen weichen Bett mit Daunenkissen. Jemand würde hereinkommen, laut reden und den Zimmerservice bestellen. Ich würde mich bis zur vierten Tasse Kaffee grauenvoll fühlen. Dann würde ich den Tag mit Shoppen, Essen und Abhängen verbringen, gefolgt von einem Abend im Theater oder einem versnobten neuen Club oder einem angesagten Restaurant. Kurzum, eine sinnlose, dumpfe Existenz - der totale Albtraum.
Ich schloss die Augen wieder. Aber nicht so ein Albtraum wie der, in dem Incy Boz und Katy in diesem Lagerhaus umgebracht hatte. Der war mir so real vorgekommen ... wieso hatte ich immer wieder diese Träume, diese Visionen?
Jemand klopfte an die Tür. Ich ignorierte es - wahrscheinlich nur das Zimmermädchen. Wenn ich die Augen jetzt wieder aufmachte, würde ich wirklich wach werden, und die Vorstellung, bei Incy in Boston aufzuwachen, machte mir Angst.
Die Tür wurde geöffnet. Ich stellte mich schlafend und roch ... Kräuter?
»Ich weiß, dass du nicht schläfst«, sagte River und meine Augen flogen auf.
Sie war es wirklich. Ich war wirklich hier. Ich runzelte die Stirn und versuchte, mich zu erinnern. Ich wusste nur noch ... oh mein Gott, war das alles wirklich passiert? Diese unaus;sprechlichen Grausamkeiten in dem Lagerhaus? War das echt gewesen? Oh, Göttin.
»Setz dich auf und trink das«, sagte River.
Mein Blick fiel auf meine Handgelenke. Sie waren mit Blutergüssen und tiefen Kratzern von den Holzsplittern des Pfeilers übersät. Mein Hals tat weh. Meine Hand fuhr hoch zu meinem Nacken; jemand hatte mir einen dünnen Schal umgelegt. Diese mitfühlende Geste rührte mich so, dass mir Tränen in die Augen traten. Ich nahm River den Teebecher ab und fing an zu nippen.
Neues Entsetzen durchströmte mich, als ich mich an immer mehr Einzelheiten erinnerte. River setzte sich zu mir aufs Bett. Ich konnte sie nicht ansehen, trank nur meinen Kräutertee und ließ die Tränen laufen.
»Es tut mir so ... leid«, flüsterte ich und starrte dabei auf die Bettdecke.
»Ich weiß«, sagte River.
»Innocencio - ist er tot?«
»Nein. Der arme Incy wird die Heilkräfte meiner Tante Louisette über sich ergehen lassen müssen«, antwortete sie. »Nell ist zurück nach England gereist, an einen anderen Ort der Erholung. Aber ich denke, dass Incy ziemlich lange bei Louisette bleiben wird.«
»Man kann ihm doch sicher nicht helfen, oder?« Ich hörte die Skepsis in meiner Stimme.
»Doch, ich denke schon«, sagte River.
Wow, wenn die Incy wieder hinbekamen ... dann war meine Reha ein Spaziergang.
Wieder klopfte jemand an meine Tür und Anne kam mit einem Tablett herein. Der Teller Suppe und das Stück Brot erinnerten mich an den Abend, als ich von hier verschwunden war - war das erst ein paar Tage her? Da hatte Incys Dunkelheit, getarnt als meine eigene, das Abendessen ruiniert. Ich rutschte ans Kopfende des Bettes, bis ich mich dort mit dem Rücken anlehnen konnte, und Anne stellte das Tablett auf meinen Schoß. »Ich vergesse dauernd, was du mit deinen Haaren angestellt hast«, sagte sie trocken. »Welcher Teufel hat dich denn da geritten?«
Ich betastete die magentafarbenen Strähnen. »Ich denke, das habe ich dem Bann zu verdanken, unter den Incy mich gestellt hat«, sagte ich langsam und musste wieder an Incys feindselige Worte denken, die er mir an den Kopf geworfen hatte ... wann? Letzte Nacht? »Welcher Tag ist heute? Wie lange habe ich geschlafen?«
»Ungefähr achtzehn Stunden«, sagte River. »Was meinst du damit, dass du unter Incys Bann gestanden hast?« »Als wir letzte Nacht miteinander gekämpft haben, habe ich alles rausgehauen, was ihn verletzen könnte; wie sehr ich ihn hasste, wie schrecklich und jämmerlich er sei und dass ich viel stärker wäre als er ... « Ich verstummte verlegen. Meine angebliche Stärke hatte sich in River's Edge bisher noch nicht gezeigt, sonst hätte ich wohl kaum
Weitere Kostenlose Bücher