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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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im Auge. Er stand jetzt, die Arme an den Seiten. Seine Stimme war stark, aber die böse Absicht verpestete den klaren Klang. Die Worte waren finster und sehr alt und brachten schon seit Jahrtausenden Tod und Verderben über die Menschen. Mit kaum kontrollierbarer Panik stellte ich fest, wie sich die Dunkelheit um mich herum verfestigte.
    Incys Gesang näherte sich dem Höhepunkt. Sein Gesicht war schweißnass, seine Augen wild und leer, aber seine Verzückung war offensichtlich. Er hob die Hände Richtung Decke und drehte sich langsam im Kreis herum.
    Seine Beschwörung traf mich wie Gletscherluft aus dem Eismeer. Ich schauderte vor Kälte und schloss die Augen, hauchte meinen Gesang hinaus und war überzeugt, nie wieder warm zu werden. Ich war ein Gefäß, das mit dem Erbe meiner Familie gefüllt werden sollte. Ich nahm meine Kraft nicht von Incy oder dem Holzfußboden oder aus der Nachtluft. Ich kanalisierte sie nur, ließ sie durch mich fließen. Ich würde nicht aufgeben. Ich würde ihn nicht gewinnen lassen, ohne mich zu wehren. Ich würde nicht zulassen, dass er oder irgendjemand anders das nahm, was mir gehörte. Meine Kraft würde immer mir gehören. Die Kälte kroch über mich hinweg wie eine Rankpflanze, die alles erstickte. Als ich die Augen öffnete, verschwamm alles. Schon bald würde dieDunkelheit aus Incys Kopf durch meine Kehle gleiten, in meine Ohren und meine Augen dringen und dann würde alles vorbei sein.
    Haft, haft, efta gordil, efta alleg, sang ich. Die Worte waren schon uralt gewesen, als meine Eltern geboren wurden, geschaffen von irgendwelchen Alten zu Anbeginn der Magie.
    Hvitur dufa, eilil dag ... myn hroja, myn gulfta ... Meine weiße Taube. Ich stellte sie mir vor, jede einzelne Feder, die Augen schwarz wie meine. Es war meine Kraft. Ich kontrollierte sie. Und sie war unbegrenzt! Sie war in den Flügeln meiner Taube, so stark und schwerelos, in den weißen Federn, die sich ausbreiteten wie Sonnenstrahlen. Meine Taube gehorchte meinem Ruf, wie ihre verschiedenen Inkarnationen den Rufen meiner Vorfahren schon seit Jahrhunderten gehorcht hatten. Sie war viel stärker als Incys Flickwerk aus gestohlenem Fjordaz. Das hier war meins, aus meinen Knochen, meinem Blut.

    Incy schrie jetzt und drehte sich immer noch im Kreis. Bei jeder Umdrehung zog sich die Schlinge aus Dunkelheit enger um meinen Hals. Ich würde das Bewusstsein verlieren. Plötzlich stampfte Incy mit dem Fuß auf und blieb stehen. Er schwenkte die Arme energisch nach unten, als wollte er ein Orchester verstummen lassen.
    Mein Sehvermögen schwand. Ich konnte nichts mehr sehen. Eine Schlinge aus dunkler Magie würgte mir die Luft ab ...
    Hvitur dufa, ich befreie dich. Ich befreie dich! Vor meinem inneren Auge sah ich, wie ich die Hände hochwarf und die Kraft meines Clans fliegen ließ ... und dann durchfuhr mich zu meiner totalen Verblüffung ein gewaltiger Energiestoß, der jede Zelle meines Körpers unter Strom setzte. Mein Rücken krümmte sich unwillkürlich, was meine Hände gegen den rauen Holzpfeiler rammte. Mir standen die Haare zu Berge, als wäre ich von einem Blitz getroffen worden, und meine Haut brannte und fühlte sich an, als würde sie gleich platzen. Meine Nase blutete und ein stechender Schmerz in den Ohren ließ mich aufschreien. Ich spürte, wie mich etwas verließ, etwas Riesiges, als hätte ich eine von diesen rollenden Gestrüppkugeln produziert, die von mir wegtrudelte,um das zu tun, was ich wollte.
    Im Bruchteil einer Sekunde war Incys Fesselungszauber gebrochen: Ich war wieder voll da und in mir summte die unsterbliche Kraft von vielen Generationen. Die Kette, die meine Hände gefesselt hatte, zerbarst und die Bruchstücke flogen in alle Richtungen.
    Anderthalb Meter entfernt explodierte Incys Zirkel. Die Kerzen erloschen und die Hämatitbrocken schossen über den Boden. Incy zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden, und beinahe hätte es ihn von den Füßen gerissen. Er schwankte, fing sich aber und starrte mich mit offenem Mund an.
    Ich konnte nicht fassen, was ich getan hatte. Ich war fasziniert, aber zugleich auch ein wenig verlegen.
    »Du wirst meine Kraft nie kriegen!«, zischte ich. Meine Schultern schmerzten. Als die Durchblutung meiner Hände wieder einsetzte, war das so schmerzhaft, dass ich am liebsten geweint hätte. Auch meine Beinmuskeln protestierten, als ich so schnell aufstand, wie ich konnte. »Du wirst

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