Erst ich ein Stück, dann du - Hexengeschichten
Käfig ans Fenster und blickte ins Tal hinunter, das sich mehr und mehr mit Leben füllte. Hexen mit bunten Kopftüchern und schwarzen Knitterhüten kamen auf ihren Besen über die Bergwipfel geflogen, Zauberer mit langen Gewändern und eleganten Zauberstäben tauchten einfach aus dem Nichts auf und die Gaukler in ihren bunten Kostümen ritten auf prächtig geschmückten Kamelen, Elefanten und Drachen herbei.
Am Dorfrand hinter der Kesselschmiede hatte eine große Kutsche gehalten. Hexenlehrer Jakobinus Firlefanz
stand daneben und rief die Kinder zusammen. Luzie grinste. Über die Aufregung wegen Tante Flora hatte Mama anscheinend völlig vergessen, dass sie einen Schulausflug machen sollte.
Zum Glück!
Denn nun hatte Luzie doch eine Idee.
„Kannst du gut fliegen?“,
fragte sie den Raben.
„Aber klar doch“, sagte Rolfi stolz.
Luzie hatte nämlich keinen Hexenbesen. Auch dafür war sie mit ihren einhundertundelf Jahren noch viel zu klein.
„Kannst du mich auf deinem Rücken tragen?“, fragte sie.
„Hm“, machte Rolfi. „Vielleicht. Was hast du denn vor?“
„Ich will Tante Flora die Warzen wieder wegzaubern“, sagte Luzie. „Ich möchte nämlich nicht, dass alle Leute sie auslachen. Wenn dieser komische Kauz nicht ihren Spiegel verhext hätte, hätte sie mir bestimmt einen Hexenhut genäht … und bei meiner Mutter ein gutes Wort für mich eingelegt.“
Natürlich hätte sie ebenfalls gerne verhindert, dass
Oma Orakula ihren Topf und die Kräutersammlung und Bambura die Kellerkröte und ihre Hexenehre verlor, aber leider gab es dafür keinen Zauberspruch und auch sonst wusste Luzie sich diesbezüglich noch immer keinen Rat.
„Wir warten, bis es dunkel wird“, sagte sie. „Damit uns keiner bemerkt!“
Wieder hockte sie sich neben dem Rabenkäfig ans Fenster und schaute dem Treiben im Tal zu. Die hübsche junge Hexe Lametta brachte einen großen Karton voller Kürbiskuchen, Kicherlimo und Grimassenzwang-Lollis zu Jakobinus Firlefanz. Der hievte ihn in die Kutsche, sprang auf den Bock, wirbelte seine Zaubergerte durch die Luft und einen Wimpernschlag später erhob sich die Kutsche in den glutroten Abendhimmel.
Luzie blickte ihr wehmütig hinterher. So ein nächtlicher Schulausflug war bestimmt eine feine Sache. Fast bereute sie es, dass sie nun doch nicht dabei sein konnte. Na, immerhin hatte sie hier eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Schließlich musste sie ihren dummen Einfall mit dem Warzenzauber wieder in Ordnung bringen.
Auf der Bühne gab gerade eine Artistengruppe ihren Flugtanz zum Besten. Neun Frauen und Männer schwirrten Salto schlagend durch die Luft und warfen einander Bälle, Fackeln und Blumensträuße zu. Das Publikum im Tal jubelte vor Begeisterung und verabschiedete die Gaukler mit großem Applaus.
„Und nun startet der große Zauberwettbewerb!“, verkündete der älteste Hexenmeister im Tal. „Als Erstes bitte ich den Herausforderer aus dem Burgenland, den großen Zauberer Majorin, auf die Bühne. Sollte er in diesem Jahr wieder den Sieg davontragen, darf er sich fortan mit dem Titel Oberhexenmeister schmücken.“
Luzie pfiff durch die Zähne.
„Darauf ist er also aus!
Bestimmt hat er diesen komischen Kauz
zu Tante Flora geschickt.“
Sie öffnete die Käfigklappe.
„Los, Rolfi, wir müssen uns beeilen!“
Der Rabe schoss aus seinem Gefängnis heraus und landete neben dem Zaubersprüchebuch. Er schob seinen Schnabel zwischen die Seiten und schlug Seite 74 auf. IZRIW IZRAW GEW lautete der Spruch, der die Warzen wieder verschwinden lassen würde.
Rolfi flatterte zum Fenstersims.
Luzie schlang die Arme um seinen Hals.
Der Rabe breitete die Flügel aus.
Majorin hatte inzwischen ein gigantisches Feuerspektakel gezündet. Riesige Flammen züngelten aus seinem Zauberstab, ballten sich zu Leuchtkugeln zusammen und schossen über die Köpfe der staunenden Zuschauer hinweg. Alle hatten ihren Blick wie gebannt zur Bühne gerichtet, auch Bambura und Oma Orakula. „Los, Rolfi“, rief Luzie noch einmal. „Das ist unsere Chance!“
„Halt dich gut fest“, sagte der Rabe.
Eine Sekunde später hob er ab
und raste im Sturzflug auf die Bühne zu.
Fast hätte Luzie laut gekreischt.
Aber sie riss sich zusammen
und presste ihre Lippen fest aufeinander.
Einen halben Meter über dem Boden fing Rolfi seinen Sturz ab und segelte in einer eleganten Kurve um die Menschenmenge herum bis zum hinteren Bühnenaufgang. Unter der
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