Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Romane. Das hängt zusammen mit der traumatischen Erfahrung des Ruins und der Schuldhaft seines Vaters und der ganzen Familie in Marshalsea, während Charles mit zwölf Jahren in einer Schuhwichsfabrik Dosen mit Schildern beklebte und anschließend beschriftete. Allein auf sich gestellt, von der Familie getrennt und seinem Schicksal früh überlassen, verfolgte Dickens seitdem die Angst vor gesellschaftlichem Abstieg, sicherlich eine der Triebfedern für den manischen Schreiber, Schauspieler und Entrepreneur der späteren Lebensjahre. Dickens war ein Selfmademan. Einer, der es fertig gebracht hat, sich praktisches Wissen anzueignen, sich aus dem gefühlten Elend herauszukämpfen, erst als Lehrling in einem Anwaltsbüro, anschließend als Gerichtsreporter. Und der dann seine Chance ergriff als Autor – zunächst der Londoner Skizzen, dann des ihm angebotenen Fortsetzungsromans The Pickwick Papers , der ursprünglich als reine literarische Illustration zu Sportkarikaturen des damals berühmten Zeichners Robert Seymours geplant war. Aus den erwarteten humoristischen Begleittexten machte Dickens ein monatlich erscheinendes Kultuniversum der skurrilen Begebenheiten um die Mitglieder der Pickwick Clubs, das ein publizistisches Massenphänomen wurde. Dieser seriellen Form – das heißt der Veröffentlichung in Fortsetzungen, wie wir sie heute eigentlich nur aus Fernsehserien kennen – blieb er sein Leben lang treu.
Es mag biographische Gründe haben, dass mich genau diese Problemfelder und der daraus erwachsende Kampfgeist faszinieren, seit ich die Bücher als Kind zum ersten Mal las.
In Bleak House tauchen viele für Dickens typische Konfliktsituationen auf, aber bereits der Anfang erweitert die in früheren Romanen erprobten Muster des Bildungsromans ( David Copperfield ), des Märchens ( Oliver Twist ), des Familien- ( Dombey and Son ) und des historischen Romans ( Barnaby Rudge ) zu einer außergewöhnlichen Fassung der Erzählung über eine Gesellschaft – kein Wunder, daß Dickens für so unterschiedliche Schriftsteller wie Dostojewski, Kafka und Nabokov wichtig wurde. Dickens’ Frage ist nicht, ob der Held durch eine Reihe gefährlicher Situationen unbeschadet am Ende nach Hause kommt, es ist nicht das Odysseusthema, das ihn interessiert. Sein Problem ist nicht die Rettung der Protagonisten (außer vielleicht in Oliver Twist ), sondern ob und wie sie sich ändern. Das Statische der Nebenfiguren konterkariert dabei die Probleme des Romans, führt die Beschränktheit eines selbstsüchtigen Standpunkts in Bleak House vor, etwa auf das Drohnenleben à la Skimpole oder das Durch-große-Gesten-Unglückin-die-eigene-Familie-Bringen bei Mrs. Jellyby.
Es sind jedoch nicht die Themen und deren intelligente Handlungsverknüpfungen in Bleak House oder die beeindruckende Gesellschaftsallegorie des Romans, auf die ich aufmerksam machen will, sondern auf die Keimzelle all dieser Großartigkeit – die sprachliche Gestaltung:
»›Jarndyce kontra Jarndyce‹ geht seinen schleppenden Gang. Dieses Ungeheuer von Prozeß ist im Verlauf der Zeit so verwickelt geworden, daß sich kein Mensch auf Erden mehr darin zurechtfinden kann. Die Parteien verstehen ihn am wenigsten, und nicht einmal zwei Kanzleigerichtsadvokaten können fünf Minuten davon sprechen, ohne nicht schon über die Vorfragen gänzlich uneinig zu werden. Zahllose Kinder sind in den Prozeß hineingeboren worden, zahllose junge Paare haben hineingeheiratet, zahllose alte Leute sind herausgestorben.«
Ein guter Anfang hat Rhythmus, jene sprachliche Wellenbewegung, die das Schiff der Geschichte von nun an vorantreiben wird. Nicht nur das Ungeheuer, die Urzeitechse, die die Holborn Street im Konjunktiv hinaufwatschelte, taucht als bedeutungsverschobene Bezeichnung für den Prozess wieder auf. Das Metonymische, die Figur der Verschiebung, wird später selbst zum Thema des Romans.
Es sind diese Feinheiten im Gewebe, das logische und zugleich sinnliche Geflecht, in das die verwickelten Einzelheiten einer komplizierten Handlung mit größter Umsicht zu einem Ganzen vereint werden, die Bleak House auszeichnen und deren elegante Fäden ich im Nebulösen des Anfangs immer wieder symbolisch ausgelegt sehe. Sie locken, sie ziehen in den Roman.
III. Dickens’ Gestalten
Vladimir Nabokov ist ein Autor, dessen Vorlesungen ich immer wieder zu Rate ziehe, wenn ich mir unsicher bin, ob das, was man mit Literatur anstellt, denn ausreicht, um dem Leben ein paar Tropfen Sinn
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