Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Dickens gefunden hat – und was für Kafka gut war, kann für andere Autoren nicht schlecht sein.
Aufgabe 2
Beschreiben Sie analog zu Dickens einen Raum, in dem das große Stimmungs- und Wetterszenario Ihres Anfangs seine Entsprechung findet, wo Sie aus der Panoramalage in die Kammermusik einsteigen und ein, zwei Figuren miteinander agieren lassen, als Fortsetzung des Wetters.
ULRIKE DRAESNER
Sinne
Gustave Flaubert: Madame Bovary [1857]
»Wir waren beim Lernen« – so beginnt Flauberts Madame Bovary , jener Roman, bei dem man am Ende weder weiß, von wem er handelte noch von wem er erzählt wurde. Da ist Lernen wohl angesagt, und so geht es weiter: wir, die Leser, erwarten eine hübsche Protagonistin. Stattdessen werden uns ein Haufen pubertierender Knaben und zwei vertrocknete Männlein vorgesetzt. Auch zum Ende des Romans steht es kaum besser: das Apothekermännchen Homais ist mit dem Kreuz der Ehrenlegion bedacht, während alle drei Madames Bovary verschwunden sind, was uns derart mitgenommen hat, dass die Frage nach dem Erzähler – leichtsinnigerweise oder sicherheitshalber – ganz vergessen ist.
Vergessen, ja, denn Flauberts Roman steckt voller Sprach- und Bezauberungstricks. Da wundert es wenig, dass bereits der erste Satz in die Irre führt. Er spielt doppelt: für die Handlung versetzt er uns in jenen Schulraum, den Charles Bovary, neu, tollpatschig, brav, soeben betritt. Für uns aber, die Leser, sagt er: »Ihr seid jetzt am Lernen« und müsste im Präsens stehen, was er auch tut, schließlich ist das verwendete Imperfekt die klassische Erzählform der Gegenwart. Französisch lautet der Satz noch viel schöner, nämlich »Nous étions à l’Etude«. Also, wir waren, was die Schulstunde angeht, in jenem Teil, der Übung heißt, ja, wir übten uns, als der »Direktor eintrat, hinter ihm ein Neuer«. Und eben wir, als Leser, üben uns in dieser Schulstunde, als Charles eintritt, der uns zu Emma führen wird, und sind mit dem ersten Satz »à l’Etude« gesetzt: in eine Übung im Lesen.
Lesen kann man an jedem guten Stück Literatur üben. Dass man es tut, ist eine Voraussetzung für das eigene Schreiben. Bei Flaubert aber lässt Lesen sich aus zwei Gründen besonders gut üben: zum einen, weil der Roman Madame Bovary immer wieder selbst davon handelt, wie er (sie) gelesen sein möchte – er ist anders als die Romane vor ihm und weiß, dass er Lesekonventionen auf die Probe stellt. So kann man hier wunderbar etwas lernen über unangestrengt mehrschichtigen Bildaufbau, über Schnitte und Übergänge. Zum anderen, weil wir ihn zumeist aus einer Übersetzung kennen. Und, welch Privileg: davon gibt es auf Deutsch gleich mehrere. Sie zu vergleichen schult den eigenen muttersprachlichen Sinn- und Rhythmusgang.
Die drei folgenden Kapitel ergeben sich somit auf flaubertsche Weise mehrstufig, wie von selbst: nous sommes à l’étude.
I. Bilder
Charles steht im Klassenraum. Er ist 15 Jahre alt, verlegen, Haare kurz wie ein Dorfkantor, derbe Schuhe, die Mütze hält er, Stunden später noch, hilflos auf den Knien.
»Es war eine Mischung aus den verschiedenartigsten Kopfbedeckungen, in der man wesentliche Bestandteile der Pelzmütze, der Tschapka, des Filzhutes, der Fischotterkappe und der Zipfelmütze wiederfand, kurz, eins jener armseligen Dinger, deren stumme Scheußlichkeit Ausdruckstiefen hat wie das Gesicht eines Blödsinnigen. Sie war eiförmig und durch Fischbeinstäbe aufgebauscht: Erst kamen drei ringförmige Wülste, dann, durch eine rote Borte voneinander getrennt, abwechselnd rautenförmige Flicken aus Samt und Kaninchenfell, darauf eine Art Beutel, der in einem mit verzwickter Litzenstickerei bedeckten Vieleck aus Pappe endete, und daran hing an einer zu dünnen Kordel eine eichelförmige Quaste aus Goldfäden herab.«
Wer hätte jemals solch einen Hut gesehen oder erdacht? Flaubert, bewandert in den Ausstattungsmustern mittelalterlicher Rüstungshelden, macht sich einen Spaß, indem er im Rückgriff auf die prachtvollen Beschreibungen, die französische Artus- und Antikenepen von ihren Rittern zu geben wissen, heldischen Glanz auf den Kappenkopf stellt.
Der Spaß aber wäre nur halb so schön, funktionierte er nicht auf verschiedenen Stufen zugleich. Zunächst sehen wir die Mütze konkret als Gegenstand vor uns. Natürlich erzählt sie von Charles, ihrem Träger. Er hat nicht das Gesicht eines Blödsinnigen, allein, die Kappenbeschreibung insinniert es. Und blödsinnig benimmt sich
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