Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
Vom Netzwerk:
Nachmittag; da ist der Nebel am dicksten, die Straße am schmutzigsten in der Nähe jenes dickschädligen steinernen Hindernisses, das so recht eine passende Zier für die Schwelle der dickschädligen alten Korporation – des ›Tempels‹ – ist. Und dicht beim Tempel in der Lincoln’s-Inn-Hall, mitten im Herzen des Nebels sitzt der Lord-Oberkanzler in seinem hohen Kanzleigerichtshof.«
    Bleak House ist auch deshalb einer von Dickens’ beeindruckendsten Romanen, weil er in seiner Eröffnung die gesamte Architektur des Romans gleichsam enthält, um auf faszinierende Weise und mit größter Detaillust eine gesellschaftliche Allegorie anzudeuten, die sich dann im weiteren Verlauf der Handlung weiter enthüllt. Bleak House ist ein allegorischer Roman. Ein Roman, in dem es die ganze Zeit um das Lesen von Zeichen, das Deuten und das Interpretieren geht. Nicht zuletzt führt Dickens einen der ersten modernen Detektive, Inspektor Bucket, in seinen Roman ein.
    Der Detektiv ist ganz wie der Leser ein Zeichendeuter, ein Spurenleser. Auch in vielen anderen Protagonisten des Buchs, im Rechtsanwalt Tulkinghorn und im Gehilfen Guppy, in der zweiten Erzählstimme des Romans, der Ich-Erzählerin Esther, die nach ihrer Herkunft forscht, wird diese Suche thematisiert. Geheimnisse sind die treibende Kraft des Romans. Ironisch ausgestellt klingt das so:
    »Was für eine Verbindung kann es zwischen dem Schloß in Lincolnshire, dem Haus in der Stadt, dem gepuderten Merkur und dem Treiben Jos, des Ausgestoßenen mit dem Besen, auf den der Lichtstrahl der Ewigkeit fiel, als er die Kirchhoftreppe fegte, geben? Was kann die vielen Menschen in den unzähligen Histörchen dieser Welt, die trotz tiefer unüberbrückbarer Kluft seltsamerweise doch zusammenkommen, miteinander verbinden?«
    Das ist genau die Aufgabe, die man als Schreibender bewältigen muss, Verbindungen des bisher Unverbundenen herstellen. Dickens ironische Poetik stellt hier die bis heute entscheidende Frage für das Gelingen eines Romans. Dickens musste seine Romane, die ja nicht zu den dünneren gehören, sehr genau planen. Bleak House etwa umfasst in der modernen Penguin-Ausgabe 935 eng bedruckte Seiten. Das Buch war, wie alle Dickensromane, zunächst eine Fortsetzungsgeschichte. Sich Dickens’ Baupläne anzusehen, seine Strukturskizzen, ist für jeden Schreibenden, der vor einem Romanprojekt steht, äußerst hilfreich. Die Skizzen verzeichnen Orte, Personen und Handlungskomplexe, wie eben den »Großen Fall Jarndyce und Jarndyce« zu Beginn, die in dem jeweils monatlich erscheinenden Kapitel ausgeführt werden sollen. Bereits an den Notizen wird deutlich, wie viel kompositorisches Gewicht Dickens auf den Beginn gelegt hat: »/Bleak House (and the East Wind) – No. 1/« heißt es da, dann: »chapter I. In chancery. The great cause of Jarndyce and Jarndyce«.
    Es existieren unter anderem auch mehrere Blätter, auf denen sich Dickens über den Titel des Romans Gedanken gemacht hat. Ursprünglich hatte er Tom-All-Alone’s / The Ruined House als Titel vorgesehen. Tom-All-Alone’s ist der sprechende Name eines Slums in London. Deutlich wird, wie Dickens bereits in der ersten gedanklichen Komposition den Roman über seine Schauplätze metaphorisch auflädt. Die dann gewählte Exposition mit dem Großschauplatz London, dem sich durch alle Räume, bis in das britische Justizsystem durchziehenden Nebel, mit seinem geheimen Zentrum, dem hohen Kanzleigericht, ermöglicht es Dickens, den Roman als soziales Panorama voller ineinander laufender Handlungsstränge anzulegen. Die verwickelte Erbschaftsgeschichte im Fall Jarndyce und Jarndyce, das Geheimnis um Esther Summersons Abstammung und immer wiederkehrende Dopplungen in der stark typisierenden Figuration unterstützen dies noch. Gezeigt wird, wie eine Gesellschaft zusammenhängt, wie das Nebulöse dieser Verbindungen allmählich freigelegt wird, wie sehr sich alles unwillkürlich als Zeichensystem aufeinander bezieht. Das geht bis hin zur Ansteckung Esthers mit den Blattern, die der elternlose Straßenfeger Jo von Tom-All-Alone’s einschleppt. Die Gesellschaft, an dieser Stelle scheint der Roman auf alte organologische Metaphern zurückzugreifen, ist ein Körper – oder eine Familie. Wenn ein Teil krank ist oder fehlt, dann breitet sich die Infektion epidemisch auch in die höchsten gesellschaftlichen Schichten aus.
    Das Thema der Elternlosigkeit, der Waisenkinder, die ihrer Umgebung ausgeliefert sind, durchzieht Dickens’

Weitere Kostenlose Bücher