Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
abzupressen. Über Bleak House heißt es bei Nabokov hinsichtlich Dickens’ unnachahmlicher Kunst, Nebenfiguren zu erzeugen: »Die Welt eines großen Autors ist recht besehen eine magische Demokratie, in der auch Randgestalten, und seien sie noch so unbedeutend, wie der Mann, der sein Zwei-Pence-Stück in die Luft wirft, ein Recht auf Leben und Fortpflanzung haben.«
Dickens’ Figuren haben die Tendenz, sich dem Leser ins Gedächtnis einzubrennen: Es sind die Skimpoles, Gadgrinds, die Familie der Micawbers aus dem Entwicklungsroman David Copperfield , mit ihren ewigen Pleiten und ewigen neuen Hoffnungen, die ein Dickensuniversum beleben wie quasi magische Signaturen. Skimpole, das Kind, wie er von sich selbst sagt, ein nie praktizierender Ex-Arzt und Geigen-Laie, der jegliche Verantwortung für sich und seine Umgebung scheut wie der Teufel das Weihwasser und doch gerade dadurch im Laufe des Romans von der ätherisch leichten Figur eines menschlichen Schmetterlings, die das Leben zu genießen weiß, sich durch sein Verhalten für den Leser und die Erzählerin Esther als verantwortungsloser, egoistischer Raubwurm entpuppt. Die Madenhaftigkeit des Skimpolschen Typs ist nur einer der denkwürdigen in Sprache und Szene lebendig gemachten Ausarbeitungen der Figuration des Bösen als Selbstsüchtigem. Der Roman entlarvt dies Verhalten in immer neuen Parallelen, am spitzesten vielleicht in der Beschreibung teleskopischer Philanthropie der Mrs. Jellby, die permanent damit beschäftigt ist, Denkschriften zu schreiben und sich um soziale Projekte zu kümmern wie etwa um die Kolonisierung und Christianisierung des linken Nigerufers in Borrioboola-Gha. Während Mrs. Jellby ihrer ältesten Tochter diktiert, herrschen Chaos und Tohuwabohu rings um sie her, verwahrlost ihre eigene Familie immer mehr. Ein weiteres allegorisches Puzzlestück im Muster des Romans, das Licht wirft auf eine im Kern selbstsüchtige Gesellschaft.
Der Kreis um Esther Summerson, John Jarndyce und Bleak House ist der Gegenentwurf einer Gemeinschaft, die Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Engagement im Nahbereich praktiziert, die also in der Lage ist, von Egoismen abzusehen. Dieser Gegenentwurf zur alles verschlingenden Prozesswelt der Anwälte, Richter, Kustoden und Urteilsgläubigen ums Hohe Kanzleigericht zeigt ein kleines Licht praktischer Hoffnung in einer Welt, in der ansonsten fast alles, vor allem die menschlichen Beziehungen pervertiert scheinen.
Wie sehr biblische Anspielungen den Roman durchziehen, zeigen exemplarisch etwa das Warten auf das Urteil im Fall Jarndyce und Jarndyce am Tag des Jüngsten Gerichts der verrückten, aber liebenswerten Prozessteilnehmerin Miß Flite, deren Haustiere – Vögel mit Namen Hoffnung, Liebe etc. – im Lauf des Verfahrens alle im Käfig weggestorben waren, und die spontane Selbstverbrennung von innen des selbsternannten Lordkanzlers der unteren Welt, des Lumpen- und Altpapiersammlers Krook.
Bleak House ist das Anwesen, das der wohltätige John Jarndyce mit seinen Mündeln Ada und Richard bewohnt. Beide sind mögliche Erben des endlosen Rechtsstreits, beide könnten ohne Jarndyces Hilfe zu einem ebensolchen Schicksal verdammt sein, wie der Straßenfeger Jo, elternlos und im vom Kanzleigericht ›verwalteten‹ Slum Tom-All-Alone’s , nicht nur alleingelassen, sondern der Verwahrlosung anheimgegeben. Bleak House ist entgegen seinem Namen der einzige Ort, der nicht öde, düster und hoffnungslos erscheint. Ein Zeichen dafür, dass Namen allein nicht zählen und man sich und sein Schicksal auch ändern kann. Das Aufsplitten des Romans in zwei Erzähler, den ironisch desillusionierten Standpunkt des allwissenden Erzählers, der uns als Draufsicht das Anfangszenario einer Welt im Urchaos des Nebels liefert, und die Geschichte von Esther, deren einfache, persönliche Erzählung sich gegen diesen Furor behaupten kann, erweist sich in diesem Sinn als Streitfall. Es bleibt unentschieden, was sich am Ende als stärker erweist: das humane Engagement oder die Machtspiele der antiquierten gesellschaftlichen Maschine.
Der Prozess Jarndyce gegen Jarndyce endet – aber nicht, weil er entschieden worden ist, sondern weil sich die Geier nicht länger an einem Kadaver weiden können: der Streitwert ist aufgebraucht, die Prozesskosten verschlangen alles.
Es sind die rhetorischen Gesten, die wie Leitmotive die Figuren bestimmen, die aus Dickens’ Romanen große tragikomische Opern machen, dabei jedoch so zauberhaft genau, so
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