Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
brutal zersetzend und doch auch anrührend sind, dass Nabokov gerade an dieser Stelle, beim Reden über Dickens die Formulierung von großer Literatur als »Sache des Rückenmarks« gebraucht. Dies Schaudern zu erzeugen ist die große Kunst. Ob man das lernen kann, mag bezweifelt werden, aber Schreiben ist eigentlich ein permanentes Lernen am Beispiel.
Ich lese Dickens immer wieder. Die Ironie, die Präzision der Beschreibung, die Magie stecken mich an, helfen mir über hölzerne, angstvolle Phasen des Schreibens hinweg, das Lesen von Dickensstellen ist eine Lockerungsübung. Ihr Studium ein köstlicher Schauer. Auch einmal eine eigene Figur zur Sache des Rückenmarks zu machen, ist nicht die schlechteste Vorgabe.
Diese Nebenfigur, von der Nabokov spricht, ein Kofferträger, ein Mann aus der Menge, der wie ein Pilz aus dem Boden geschossen kommt. Von ihm heißt es, dass er »seine zwei Pence durchaus nicht mit Entzücken in Empfang« nahm. Er wirft das Geld in die Luft und fängt es von oben her mit der Hand wieder auf und entfernt sich. Das ist scheinbar nicht aufregend, macht aber eben den Unterschied aus: ob durch ein, zwei Bilder etwas in der Vorstellung eines Lesers lebendig wird oder nicht.
Aufgabe 1
Wählen Sie ein Wetter aus, beschreiben Sie einen Ort in diesem Wetter und führen Sie die Szenerie analog zu Dickens in einen Raum, wo eine oder mehrere Figuren auftauchen.
Sie werden sehen, dass Ihnen sofort eine Exposition für weitere Szenen zur Verfügung steht. Wie kommen die Personen in diesen Raum, was hat das mit der vorherigen Beschreibung, der großen Umgebung zu tun, warum fokussiert sich alles in einem kameraartigen Zoom von der Totale, dem Großen in das Kleine, Konkrete?
Einen solchen Anfang zu schreiben setzt auf dem großen Blatt, dem Skizzenpapier für die Konstruktionspläne eines ganzen Romans, dem ersten Bogen an. Die Personen, die Räume, die Zeit und natürlich die Geschichte, die im Folgenden erzählt werden soll – entfalten sich idealerweise aus einem solchen Anfang heraus.
Dickens löst das in Bleak House durch rhetorisch sich an den Anfang immer wieder rückkoppelnde Szenenanfänge: In Kapitel II: Das Schloß der Deadlocks; das spiegelbildliche Kanzleigericht in der Unterwelt, ein Doppel im Trödelladen von Krook (was als sprechender Name das englische Wort für Gauner aufruft), wo das verbrauchte, das alte Papier aus vergangenen Prozessen angeschwemmt wird wie Strandgut. Es ist eine Art Thrift Shop des neunzehnten Jahrhunderts, in dem sich, zufällig, gerade das entscheidende Schriftstück zur Auflösung des Falles befinden könnte.
Man lernt durch das genaue Studieren von Anfängen und der genauen Ausführung eines eigenen Anfangs also Möglichkeiten für den geschickten Aufbau eines Romans kennen. Man lernt die Möglichkeit von Anschlüssen. Von Thesen – und Antithesen, die sich, wenn es gelingt, zu einer Geschichte fügen. Wem das zu traditionell erscheint, der sei daran erinnert, dass auch der Verstoß und das experimentelle Ausbrechen aus dem Schema einer Geschichte mit Anfang, Mitte, Höhepunkt und Ende die Kenntnis dessen, was wir eine Geschichte nennen, voraussetzt, sie also nur anders an- oder ausspielt.
Bücher schreiben (und lesen) ist wie Sex: Sie können sowieso alles machen, wenn Sie schreiben – es muss nur funktionieren (und funken). Das Studium der Vorbilder wird für das Schreiben zum Impulsgeber, und zum Korrektiv.
Dickens gelingt es mit den Anfängen vor allem seiner späten Romane Bleak House , Little Dorrit und Unser gemeinsamer Freund , aus dem Wetter und dem größeren Ort, zweimal London, einmal Marseille, in einen Raum überzuleiten, das Kanzleigericht, ein Wirtshaus, ein Gefängnis, das für die folgende Erzählung von zentraler Bedeutung ist. In Bleak House wird das Kanzleigericht zur Metapher für eine beziehungslose, in ihrer Sprache ausgehöhlte Gesellschaft, die sich nur durch einen unendlichen Prozess des Deutens, Argumentierens, Hoffens und Verhandelns Bedeutung verleiht. Der Gegenstand des Rechtstreits Jarndyce Contra Jarndyce, ein Bruderstreit, eine schon durch diese Namensgebung zeichenhafte Tautologie, ist längst in den Weiten der Zeit, den Unmengen von Rechtsgelehrten, die sich damit befassten, und unter den Prozessakten, den Unmengen beschriebenen Papiers begraben. Franz Kafka hat viel von Dickens gelernt – man könnte alle seine Romane, den Prozeß , Das Schloß und Der Verschollene als Variationen von Mustern lesen, die er bei
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